Dilemma der Demoskopen Rätselhafte Wechselwähler
29.10.2008, 08:04 UhrDer Countdown läuft: In wenigen Tagen wird entschieden, wer für die kommenden vier Jahre als mächtigster Mann der Welt ins Weiße Haus einzieht. Doch bis es so weit ist, könnte der Schlussspurt der US-Wahlschlacht zwischen dem Demokraten Barack Obama und dem Republikaner John McCain noch zur Zitterpartie werden. Denn die Wankelmütigkeit der Wechselwähler hat schon manch vermeintlichen Sieger das entscheidende Quäntchen sicher geglaubter Stimmen gekostet. Ähnlich wie im Herbst 2000 könnte die Stimmungslage in den "Swing States" wieder zum Zünglein an der Waage werden. Die Motive der Kurzentschlossenen geben Meinungsforschern und USA-Kennern aber gleichermaßen Rätsel auf.
"Nach derzeitigen Umfragen sieht es so aus, als könnte Obama seine beiden Schwachpunkte aus dem Vorwahlkampf ausräumen - die geringe Unterstützung bei Latinos und einfachen Arbeitern", sagt Josef Braml. Der Experte für transatlantische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin erwartet, dass das Votum der Wähler-Mitte am 4. November in den westlichen Bundesstaaten äußerst knapp ausfällt. Ein Grund für mögliche "Swings" in Colorado, Nevada oder New Mexico: McCains Haltung in der Einwanderungspolitik ist in der hispanischen Gemeinde auf wenig Gegenliebe gestoßen.
"Swing Voters" könnten McCain wählen
Im Übrigen seien die Hintergründe abweichender Wahlprognosen aber unklar, meint Braml. "Umfragen sind eine Sache, die Wahl ist eine andere." Schon Obamas parteiinterne Rivalin Hillary Clinton hatte im Vorwahl-Rennen betont, dass sie in den "Swing States" bei Frauen und Älteren mehr Chancen habe - und beschwor das demokratische Menetekel Nummer eins herauf: Hunderttausende "Swing Voters" könnten für McCain stimmen, weil sie dem oft als elitär empfundenen Obama misstrauen.
Notorische Wendehälse oder rätselhafte Unentschlossene? Der große Einfluss der Wechselwähler auf die Bildung politischer Mehrheiten ist zwar unbestritten. Wie groß dieser Einfluss speziell in den USA ist, kann aber niemand mit Sicherheit sagen. Das Dilemma der Demoskopen: Je ausgefeilter ihre Methoden werden, desto mehr Faktoren gilt es zu berücksichtigen. "Eigentlich sind anspruchsvollere Modelle gut in der Prognose", sagt der Berliner Kommunikationswissenschaftler Lutz Erbring, der lange selbst in den USA forschte. "Es müssen jedoch auch Veränderungen abgebildet werden, die von außen reinspielen."
So schaffe der hohe Anteil an Erstwählern, für deren Mobilisierung die Demokraten Millionen ausgegeben haben, diesmal eine völlig neue Lage. "Das ist eine Tatsache, den viele Institute nicht sehen", moniert Erbring. Verzerrungen ergäben sich auch, wenn die Stichproben der registrierten und der "wahrscheinlichen" Wähler vermischt würden."Dann haben Sie Vorhersagen von sehr unterschiedlicher Qualität."
Nach Langzeitrechnung ist Obama der Sieger
Manche Forscherkollegen versuchen das Restrisiko Wechselwähler daher mit alternativen Methoden zu verringern, die auf Umfragedaten ganz verzichten. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsblatts "New Scientist" stellte der Harvard-Historiker Allan Lichtman ein statistisches Langzeitmodell vor, das die Resultate der vergangenen sechs US-Präsidentschaftswahlen stets richtig vorausgesagt hat. Nicht die durch Befragungen ermittelte Sympathie des Wählers gegenüber dem Kandidaten sei entscheidend.
Vielmehr bestimmten "strukturelle" Größen wie das private Einkommen, der soziale Status oder die politisch-ideologische Identität darüber, wo das Kreuzchen gemacht wird. "Die Stärke dieser Methode besteht darin, dass sie gute Voraussagen liefert, lange bevor Umfragen einen prognostischen Wert erreichen." Lichtmans Prophezeiung nach Einschluss aller Variablen: Obama setzt sich mit 55 Prozent der Stimmen klar gegen McCain durch.
Quelle: ntv.de, Jan-Henrik Petermann, dpa