Genossen stärken Kandidat Steinbrück Reifeprüfung bestanden
09.12.2012, 17:08 Uhr
Steinbrück wird minutenlang gefeiert - länger gar als Kanzlerin Merkel.
(Foto: dpa)
Nach dem verkorksten Wahlkampfstart und der Diskussion um Nebeneinkünfte ist die Anspannung groß. Straft die SPD Peer Steinbrück ab und verdirbt ihm die Kür oder vergibt sie ihm? Doch die Sorgen lösen sich in Luft auf. Der Kanzlerkandidat hält eine starke Bewerbungsrede. Die Partei belohnt das mit einem überraschenden Ergebnis.
Zum ersten Mal seit nahezu zwei Stunden schweigt Peer Steinbrück. "Wir werden es schaffen" - damit beendete der Kanzlerkandidat kurz zuvor seine Rede auf dem SPD-Bundesparteitag in Hannover. Dann erschallt der donnernde Applaus von allen Seiten. Keinen Genossen hält es mehr auf dem Sitz. Zehneinhalb Minuten ausdauerndes Klatschen für den Mann, der die Partei zurück in die Regierung bringen soll. Steinbrück ballt die Siegerfaust, verbeugt sich, dreht sich um die eigene Achse und winkt nach allen Seiten.
Ein Kandidat der Mitte will er sein, hatte Steinbrück deutlich gemacht. "Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Mitte heißt aber nicht Orientierungslosigkeit oder Prinzipienlosigkeit. Mitte heißt, die Interessen der Mehrheit der Deutschen ins Zentrum unserer Politik zu stellen", versicherte der 65-Jährige. "Ich will mit eurer Hilfe, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden", sagte er in den Jubel hinein.
Den Delegierten gefiel der Auftritt. Sie wählten Steinbrück mit 93,4 Prozent der Stimmen zu ihrem Kanzlerkandidaten. Damit schnitt Steinbrück besser ab als Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der 1998 auf 93 Prozent gekommen war. Im Vorfeld des Parteitags war ein schwächeres Ergebnis für Steinbrück befürchtet worden. "Die Zahl könnte eine Orientierungsmarke für das Wahlergebnis im September nächsten Jahres sein", erklärte Steinbrück und nahm die Wahl an.
Buhrufe in der Messe-Halle
Dabei begann die Rede Steinbrücks mit einem Zwischenfall. Der Kanzlerkandidat hatte sich noch nicht warm geredet, da passierte es. Plötzlich erschallten Buhrufe in der Messe-Halle. Greenpeace-Aktivisten hatten ein Banner über die Wand hinter dem Redner-Pult geworfen. Über einem Bild Steinbrücks stand dort geschrieben: "Genug Kohle gescheffelt?". Steinbrück geriet kurz in Stocken, Ordner entfernten die Aktivisten daraufhin aus dem Saal.
Zu der Debatte um seine Nebeneinkünfte nahm Steinbrück während seines Vortrags nur kurz Stellung. "Meine Vortragshonorare waren Wackersteine, die ich in meinem Gepäck habe und auch Euch auf die Schultern gelegt habe. Ich danke euch, dass ihr mit mir diese Last getragen und ertragen habt." Er habe viel Solidarität erfahren, mehr als er erwartet habe. "Das hat mich berührt, das werde ich nicht vergessen", sagte Steinbrück.
Der frühere Finanzminister erinnerte die Genossen an die Wurzeln der Sozialdemokratie. Gleiche Chancen für alle, Freiheit und Selbstbestimmung, Solidarität und Gerechtigkeit - das seien seit jeher die Werte der Partei. Die Etablierung demokratischer Rechte im Kaiserreich, Frauenwahlrecht und Achtstundentag in der Weimarer Republik und die Verteidigung der Demokratie während des Nationalsozialismus lobte er als große Errungenschaften seiner Partei. Deswegen bewerbe er sich voller Stolz darum, im Jahr des 150. Geburtstags seiner Partei deutscher Bundeskanzler zu werden.
"Demokratiekonforme Märkte" statt "marktkonformer Demokratie"
Steinbrück erinnerte an die Bedeutung früherer SPD-Kanzler. Wegen Willy Brandt sei er einst in die Partei eingetreten, Helmut Schmidt verfüge immer noch wie kein anderer über ein hohes Maß an Vertrauen in Deutschland. "Die Menschen spüren, hier versteht jemand etwas von den Dingen und hat einen Kompass. Deshalb dürfte er auch im Fernsehen rauchen", bemerkte Steinbrück süffisant, woraufhin Schmidt, der die Rede aus der ersten Reihe verfolgte, sich eine Zigarette anzündete.
Den Fokus seiner Rede legte Steinbrück auf das Thema soziale Gerechtigkeit. Er bemerke eine steigende Unsicherheit in der Gesellschaft. Viele, die sich früher sicher wähnten, seien heute verunsichert und orientierungslos. "Die Menschen müssen immer gebildeter sein, immer flexibler, immer mobiler, sich immer mehr anstrengen - und sich zugleich mit weniger zufrieden geben. Damit muss Schluss sein", forderte Steinbrück.
Der ehemalige Bundesfinanzminister kritisierte die Ökonomisierung vieler Lebensbereiche seit dem Regierungswechsel im Jahr 2009. Anders als der Regierung Merkel gehe es ihm dagegen um "demokratiekonforme Märkte" und nicht um eine "marktkonforme Demokratie". "Es geht um ein neues Gleichgewicht und um eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft." Steinbrück wirbt für einen Mentalitätswechsel. "Deutschland braucht mehr Wir und weniger Ich". Andernfalls, so warnte er, würden die Fliehkräfte in der Gesellschaft weiter auseinanderdriften.
"Die Antwort heißt eindeutig Rot-Grün"
In der Diskussion um mögliche Koalitionen bei der Bundestagswahl 2013 legte sich Steinbrück eindeutig fest. "Die Antwort heißt eindeutig Rot-Grün. Über ein anderes Szenario mache ich mir keinen Kopf - und ihr bitte auch nicht", ermahnte Steinbrück die Delegierten, die seine Sätze immer wieder mit Beifall bedachten.
Aber was haben die Menschen zu erwarten von einem Bundeskanzler Peer Steinbrück? Neben der Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro und einer strengeren Finanzmarktaufsicht will sich der Kanzlerkandidat auch für einen höheren Spitzensteuersatz, die Vermögenssteuer und die Reform des Ehegattensplittings einsetzen. Steinbrück sprach sich außerdem für ein moderneres Rollenverständnis aus. "Die Koalition bestraft Frauen. Sie ist gesellschaftspolitisch rückwärtsgewandt." Als Bundeskanzler werde er deshalb eine Staatsministerin für Gleichstellung von Frauen und Männern einführen. "Was willst du beruflich machen, mit wem willst du leben und willst du Kinder?" - das seien die großen Lebensfragen. Dazu könnte eine 30-Stunden-Woche für Frauen und Männer eine Antwort sein.
Die Energiewende will Steinbrück zur Chefsache machen. "Ich werde den Verdacht nicht los, dass diese Koalition das alles nur beschlossen hat, um dieses Thema uns und den Grünen wegzunehmen. Denn was ist seit Juni 2011 wirklich passiert?", attackierte er die schwarz-gelbe Koalition.
Erst nach über einer Stunde und auffallend kurz widmete sich Steinbrück dem Thema Euro-Schuldenkrise. Er betonte: "Europa ist mehr als eine Währungsunion. Meine Generation ist seit langem die erste, die nicht auf den Schlachtfeldern verreckt ist." Eine deutsche Lokomotive sei in Europa ausdrücklich erwünscht, leider trete die schwarz-gelbe Regierung derzeit wie ein Lehrmeister auf. Merkel moderiere Europa in die Isolation, so Steinbrück.
Bis zur Bundestagswahl stimmte Steinbrück die Genossen auf einen harten Weg ein. "Wir werden über Steine gehen müssen. Aber stehen wir zu unserer Tradition und bewegen wir uns auf der Höhe der Zeit", forderte der Kanzlerkandidat und beschwor das Signal von Hannover. "Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘, dann werden wir es schaffen." Es folgte: Applaus. Über zehn Minuten und damit sogar zwei mehr als Kanzlerin Merkel beim CDU-Parteitag in der vergangenen Woche bekam. Die Merkel-Minuten sind also nicht nur erreicht, sondern übertroffen. Den ersten Vergleich haben die Sozialdemokraten damit gewonnen.
Quelle: ntv.de