Globale Landwirtschaft Ruf nach radikaler Änderung
15.04.2008, 13:50 UhrAngesichts der Nahrungsmittelkrise und von Hungerrevolten fordert der Weltagrarbericht internationaler Experten eine radikale Neuausrichtung der globalen Landwirtschaft. Die Anbaumethoden müssten weltweit geändert werden, um Arme besser zu versorgen und den Gefahren sozialer Unruhen und ökologischer Katastrophen zu begegnen, heißt es in einem Bericht, der in Paris vorgestellt wurde. Die industrielle Landwirtschaft mit Monokultur und intensivem Einsatz von Kapital oder Pestiziden sei an Grenzen gestoßen. Die Zeit zum Handeln sei knapp.
An dem Weltagrarbericht (International Assessment of Agricultural Science and Technology for Development/IAASTD) haben fast 400 Wissenschaftler sowie Regierungsvertreter mitgewirkt. Die Arbeiten an dem zwischenstaatlichen Projekt dauerten drei Jahre.
Weltweite Arbeitsteilung
Das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) unterstützte die Erstellung des Berichts nicht. Es sei darum gegangen, unnötige Doppelstrukturen zu vermeiden, hieß es zur Begründung. Dies sei ganz im Sinne der "Paris-Erklärung", in der sich die Weltgemeinschaft verpflichtet habe, Entwicklungszusammenarbeit durch Arbeitsteilung effektiver zu gestalten. Das BMZ unterstütze aber seit Jahren die Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung (CGIAR).
Die Grünen-Bundestagsfraktion forderte angesichts des Berichts mehr Hilfe für die Öko-Landwirtschaft. Die Linke verlangte ein globales Notprogramm gegen Hunger, während die FDP mehr Hilfe zur Selbsthilfe für nötig hält.
Natürliche und nachhaltige Produktion
In dem von mehr als 60 Staaten unterzeichneten Abschlussbericht heißt es, notwendig sei die Rückbesinnung auf natürliche und nachhaltige Produktionsweisen. Dazu zähle der Einsatz natürlicher Düngemittel, traditionellen Saatguts sowie kürzere Wege zwischen Produzenten und Verbrauchern.
IAASTD-Direktor Robert Watson warnte, das Hauptaugenmerk der globalen Agrarwirtschaft dürfe nicht mehr allein auf der Massenproduktion liegen, die zu einem "immer zerstörteren und geteilteren Planeten" führe. Dies sei zwar "keine neue Botschaft". "Aber es ist eine Botschaft, die in einigen Teilen der Welt nicht ausreichend gehört worden ist", sagte Watson.
Technologie und Kenntnisse vereinen
Die Experten plädieren für die Schaffung neuer Rahmenbedingungen, die die ausreichende Produktion mit dem Schutz von Wasser, Boden, Wäldern oder der Artenvielfalt vereinen. "Wir müssen mehr produzieren, aber vor allem anders", sagte Guilhem Calvo von der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). "Der Status quo ist keine Option." Mehr Produktivität und Nachhaltigkeit seien zwar "widersprüchliche Ziele". Sie könnten aber durch entsprechende Technologien und Kenntnisse "unter einen Hut gebracht werden". Das Hauptaugenmerk der Agrarforschung müsse auf die Kleinbauern in den Entwicklungsländern gerichtet sein, die für einen Großteil der globalen Nahrungsmittelproduktion verantwortlich seien.
Auch die zunehmende Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen zur Erzeugung von Bio-Treibstoffen etwa in Europa oder Brasilien kritisierten die Experten. Biosprit habe einen gewissen gesellschaftlichen Nutzen, drohe aber weiter zum Hunger in der Welt beizutragen, warnte Calvo. Besonders "Biokraftstoffe der ersten Generation" wie Mais oder Soja hätten zudem schädliche Auswirkungen auf die Umwelt. Den Einsatz von Gen-Pflanzen lehnen die Experten nicht grundsätzlich ab, mahnen aber umfassende Risikokontrollen und Kosten-Nutzen-Abwägungen an.
Sieben Organisationen involviert
Neben der UNESCO haben sechs internationale Organisationen das Projekt gefördert. Darunter sind die Welternährungsorganisation FAO, die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation WHO und das UN-Umweltprogramm UNEP. Auch Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace waren beteiligt. Die Umweltschutzorganisation bezeichnete den Bericht als "Abrechnung mit der industriellen Landwirtschaft". Die Regierungen und internationalen Organisationen müssten die Empfehlungen nun aber auch umsetzen, forderte Greenpeace in einer Mitteilung.
Den Abschlussbericht haben 64 Staaten angenommen, darunter Frankreich, Polen, China, Brasilien und Indien. Deutschland zählt nicht dazu. Die USA, Kanada und Australien haben dem Bericht grundsätzlich zugestimmt, aber unterschiedliche Bedenken geäußert.
US-Soforthilfe für Dritte Welt
Die US-Regierung stellt indes 200 Millionen Dollar (126 Millionen Euro) an Soforthilfe für Lebensmittel in Ländern der Dritten Welt zur Verfügung. Die Hilfsgelder sollen vor allem sicherstellen, dass die gestiegenen Lebensmittelpreise in armen Ländern aufgefangen werden können, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Dana Perino. Die US-Regierung folgte damit dem Apell des Weltbank-Präsididenten Robert Zoellick, der die Industrieländer aufgefordert hatte, umgehend 500 Millionen Dollar für Hilfsprogramme des Welternährungsprogramms (WFP) bereitzustellen.
Eine Sprecherin des Welternährungsprogramms (WFP) warnte vor schwerwiegenden Konsequenzen, falls die Mittel nicht aufgestockt würden. Dann seien "herzzerreißende" Maßnahmen unumgänglich. Entweder werde der Kreis der Begünstigten verringert oder es würden die Rationen gekürzt. Von den zusätzlich beantragten 500 Millionen Dollar seien gerade 14 Millionen Dollar eingegangen, sagte eine WFP-Sprecherin.
Mehr Geld aus Deutschland
Nach den jüngsten dramatischen Appellen hat auch die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul eine weitere Erhöhung der Mittel für das Welternährungsprogramm angekündigt. "Wir finanzieren das Programm regulär mit 23 Millionen Euro, haben im März bereits zusätzlich drei Millionen Euro zu Verfügung gestellt und werden diese Summe noch einmal um zehn Millionen Euro erhöhen", sagte sie der "Berliner Zeitung". Der Nothilfe müssten dann mittel- und langfristige Maßnahmen folgen.
Gegen Agrarexportsubventionen
Nicht nur internationale Geber, auch die von Nahrungsmittel- Knappheit und Preisanstieg betroffenen Länder müssten wieder stärker in die Landwirtschaft investieren und ihre Nahrungsmittelproduktion erhöhen. "Außerdem sollte diese Krise als Anlass genommen werden, endlich die Agrarexportsubventionen abzuschaffen. Sie sind ein Hemmnis und demotivierend für die Bauern in Entwicklungsländern", sagte Wieczorek-Zeul. Bis diese Maßnahmen griffen, "wird der Anteil der Nothilfe aufgestockt werden müssen. Das ginge zu Lasten anderer Maßnahmen, wenn insgesamt der Haushalt nicht steigt".
Die Etatforderungen ihres Hauses waren kürzlich von Finanzminister Peer Steinbrück zurückgewiesen worden. Wieczorek-Zeul warf ihm nun indirekt vor, damit SPD-Grundsätzen zu widersprechen. "Auf Prävention zu setzen, entspricht sozialdemokratischem Denken." Wegen der Nahrungsmittel-Krise und des Klimawandels müssten Anpassungsmaßnahmen finanziert werden. "Wenn man das nicht tut, wird das soziale und sicherheitspolitische Konsequenzen haben. Entweder wir finanzieren Präventionsmaßnahmen - oder müssen später Milliarden Beträge ausgeben, um Schäden zu beseitigen."
Außerdem müsse man auch die Relationen sehen, meinte die Ministerin: Der Entwicklungshilfe-Etat mache gut 1,5 Prozent des Gesamtbudgets aus. "Da fragen manche Menschen: Ihr habt die Großunternehmen mit fünf Milliarden Euro entlastet, warum wollt ihr keine 700 Millionen Euro für die weltweite Bekämpfung von Armut und Hunger einsetzen?", sagte Wieczorek-Zeul.
Diskussion um Biosprit "hysterisch"
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wies indes die Kritik am Biosprit, der mit zu der Hungerkrise beigetragen haben soll, zurück: "Ich halte die Diskussion für sehr hysterisch, muss ich sagen. Wir wussten ja von Beginn an, dass der Biosprit auch als Konkurrenz zu Nahrungsmitteln auftritt", sagte Kemfert bei n-tv. Jetzt vollständig auf Biosprit zu verzichten sei natürlich "Unsinn". "Wir müssen Pflanzenreste benutzen oder auch Pflanzen, die nicht in direkter Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion stehen und dann ist es auch kein Problem."
Quelle: ntv.de