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"Moskau hat Abmachung gebrochen" Russische Oppositionelle kritisieren Freilassung

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Ilja Jaschin (l-r), Andrej Piwowarow und Wladimir Kara-Mursa nach ihrer Ankunft in Deutschland.

Ilja Jaschin (l-r), Andrej Piwowarow und Wladimir Kara-Mursa nach ihrer Ankunft in Deutschland.

(Foto: picture alliance/dpa)

Es ist der historisch größte Gefangenendeal zwischen Russland und westlichen Ländern. Deutschland spielt dabei eine besondere Rolle. Nun kritisieren zwei der Freigelassenen den Austausch. Jaschin und Kara-Mursa wären lieber in Russland geblieben. Andere hätten eher gehen sollen, sagen sie.

Der russische Oppositionelle Ilja Jaschin kam im größten Gefangenenaustausch zwischen Russland und westlichen Ländern frei. Im Interview mit dem "Spiegel" kritisiert er die Freilassung gegen seinen Willen: "Ich wurde nicht ausgetauscht, ich wurde gewaltsam aus meinem Land vertrieben." Er habe in Russland bleiben wollen, unabhängig von den Risiken. In Russland wiege das Wort eines Oppositionellen mehr als im Ausland. "Es ist kaum zu begreifen, dass viele meiner unschuldigen Mitstreiter weiter hinter Gittern sitzen."

Am Vortag des Austauschs habe er eine Erklärung an den Leiter der Haftanstalt geschrieben und darauf hingewiesen, dass es die russische Verfassung verbiete, Bürger gegen ihren Willen auszuweisen. "Ich habe auf meinem Recht bestanden, in Russland zu bleiben", sagte er dem Magazin.

Am Tag darauf habe ihn Sicherheitspersonal aus der Zelle geführt. "Maskierte Männer mit Pistolen führten mich auf die Straße. Sie setzten mich in einen komfortablen Bus." Dann habe er gesehen, wie andere Oppositionelle in den Bus gebracht wurde und sich sehr gefreut. Er habe aber auf Alexej Gorinow, einen 63-jährigen Kommunalpolitiker, vergeblich gewartet. "Ihm fehlt ein Teil seiner Lunge. Er sitzt in derselben Kolonie wie einst Nawalny, wird gefoltert, pendelt zwischen Strafzelle und Lazarett. Ich hatte US-Präsident Joe Biden, Wolodymyr Selenskyj, selbst Putin um seine Freilassung angefleht", sagte Jaschin.

"Ich konnte es nicht fassen. Ich bin gesund, bereit, meinen Kampf aus dem Gefängnis fortzusetzen – und er muss weiter in einer Zelle verrotten", so Jaschin. Inzwischen wisse er, dass Gorinow auf allen Austauschlisten stand. Er hätte im Flugzeug sitzen sollen. Die deutschen Beamten hätten ihm verraten, dass die FSB-Beamten einfach ihn anstelle von Gorinow gebracht hatten. "Als der Flieger landete, musste Deutschland eine Entscheidung treffen: Die gebrochene Abmachung akzeptieren – oder die Maschine zurückschicken, den ganzen Austausch abbrechen", sagte Jaschin im "Spiegel".

"Ein Stück meines Herzens rausgerissen"

Jaschin war im Dezember 2022 zu achteinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt worden, er hatte angeblich die russischen Streitkräfte verunglimpft. Jaschin erzählte zudem, wie er während seiner Haftzeit seinen politischen Kampf fortsetzte, Texte schrieb, Interviews in Briefform gab und versuchte, andere Gefangene davon abzuhalten, in den Krieg zu ziehen. "Als Nawalny starb, war es, als hätte man mir ein Stück meines Herzens rausgerissen", sagt Jaschin. Dann habe er sich zusammengerissen, um Nawalnys Werk fortzusetzen.

Bundeskanzler Scholz, so Jaschin, habe den ausgetauschten Gefangenen bei ihrer Ankunft gesagt, er hoffe, das sei nicht der letzte Austausch. "Der Kanzler stand vor einem schweren Dilemma. Er hat mehrere Leben gerettet - und dafür einen Mörder in die Freiheit geschickt", sagte Jaschin. Er hätte so wie Scholz gehandelt.

Der Oppositionelle bleibt entschlossen, seinen politischen Kampf fortzusetzen: "Ich werde versuchen, mit dem weiterzumachen, wofür ich festgenommen wurde: Die Wahrheit über den Krieg zu sagen."

"Ich war mir sicher, dass sie mich erschießen"

Auch der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa berichtet in einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" über seine Haft im Straflager und den Gefangenenaustausch, durch den er freikam. Er war in Russland zu 25 Jahren Straflager unter strengem Regime verurteilt worden.

"Bis zum letzten Moment war ich mir sicher, dass ich zu meiner Hinrichtung gebracht werde. In der Nacht von Samstag auf Sonntag, vom 27. auf den 28. Juli, wurde mitten in der Nacht meine Zellentür geöffnet. Da standen der Gefängnisdirektor und ein Konvoi aus Männern in Zivilkleidung. Sie sagten: Du hast 20 Minuten, um zu packen. Ich war mir sicher, dass sie mich in den Wald bringen und erschießen. Aber sie brachten mich zum Flughafen."

Kara-Mursa glaubt, dass der Oppositionelle Alexej Nawalny, der im Februar im Straflager starb, noch am Leben sein könnte, wenn der Austausch früher erfolgt wäre. "Ich kann nicht anders, als zu denken: Wenn alles etwas schneller und reibungsloser gelaufen wäre, wenn die deutsche Regierung weniger Hindernisse zu überwinden gehabt hätte, wenn sie weniger auf die Kritik hätte reagieren und nicht so viele Leute davon hätte überzeugen müssen, dass dieser Schritt notwendig ist, dann hätte Alexej vielleicht mit uns zusammen im Flugzeug gesessen."

Nach seiner Freilassung am Abend des ersten August hatte Wladimir Kara-Mursa mit zwei Mitstreitern in Bonn eine Pressekonferenz gegeben, bei der es auch um die Ukraine ging. Daraufhin hagelte es Kritik an den Oppositionellen aus Russland.

Quelle: ntv.de, gut

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