Politik

Was heißt Richtlinienkompetenz? Scholz greift mit Machtwort zum äußersten Mittel

Bringt seine Minister per Brief auf Linie: Olaf Scholz.

Bringt seine Minister per Brief auf Linie: Olaf Scholz.

(Foto: picture alliance/dpa)

Bundeskanzler Scholz nutzt seine Richtlinienkompetenz und beendet den AKW-Streit in seinem Kabinett schlagartig. Ein mächtiges Instrument, das trotzdem nur selten zum Einsatz kommt - aus gutem Grund.

Die Weisung des Kanzlers mutet an wie ein Faustschlag auf den Tisch: Die Laufzeit aller drei verbleibenden Atomkraftwerke in Deutschland wird bis spätestens Mitte April verlängert. Regierungschef Olaf Scholz setzt damit dem festgefahrenen Streit seiner Koalitionspartner ein Ende. Dabei berief er sich auf die Richtlinienkompetenz. Das Instrument ist die Grundlage der Macht des Bundeskanzlers, kommt aber nur in Ausnahmefällen zum Einsatz.

Das Grundgesetz sichert dem Bundeskanzler zu, über die "Richtlinien der Politik" bestimmen zu können und dafür die Verantwortung zu tragen. "Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung", heißt es in Artikel 65. Ohne die Richtlinienkompetenz käme dem Regierungschef bei Konflikten unter Ministern lediglich eine Vermittlerrolle zu. Im Umkehrschluss bedeutet das: Die Regierung war nicht dazu in der Lage, eine Einigung zu finden.

Es ist sehr selten, dass ein Kanzler seine Entscheidung mit der Richtlinienkompetenz begründet. Regelmäßig von ihr Gebrauch machte nur Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler. Helmut Schmidt, von 1974 bis 1982 Regierungsschef, lehnte sie sogar ab. Er sehe es als seine Pflicht an, Kompromisse zu finden, erklärte er einst. Scholz' Vorgängerin Angela Merkel hatte 2018 einen Einsatz im Asylstreit mit Horst Seehofer angedroht. Tatsächlich angewendet hat Merkel das "Kanzlerprinzip" in 16 Regierungsjahren nur einmal. Im Jahr 2016 entschied sie, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zugelassen werden dürfen.

Richtlinie im Ermessen des Kanzlers

Was überhaupt als Richtlinie gilt, ist nicht eindeutig geregelt. "Es geht nicht um konkrete Sachentscheidungen, sondern eher um das, was man als Grundprinzip oder Grundstrategie der Regierung bezeichnen würde", sagt der Politologe Stefan Marschall ntv.de. "Auch kleinere Entscheidungen können unter die Richtlinienkompetenz zählen, wenn der Kanzler in ihnen eine zentrale Fragestellung behandelt sieht", so der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Düsseldorf.

Allerdings liegt es im Wesen einer Koalition, in wichtigen Entscheidungen einen Kompromiss zu finden. Konflikte werden in der Regel nicht durch die Entscheidung einer einzelnen Person beigelegt. "Die Richtlinienkompetenz steht wie eine Drohung im Raum, die aber nur äußerst selten realisiert wird", erläutert Marschall. Auch Scholz hatte Anfang August noch über die Richtlinienkompetenz gesagt: "Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: 'Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende.'"

Rund zwei Monate später tat er genau das. Kurz zuvor verliefen Treffen des Kanzlers mit Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner im Sande, die Fronten in der Ampel wirkten verhärtet. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, sei die Richtlinienkompetenz die einzige Möglichkeit gewesen, sagt Marschall. "Die Parteiführungen von Grünen und FDP konnten ihr Gesicht wahren und darauf verweisen, dass der Kanzler sein Machtinstrument ausgepackt hat." Zugleich sei die Entscheidung ein eindeutiger Beleg für Probleme in der Koalition. Der Richtlinienkompetenz liegt insofern ein Widerspruch zugrunde: Sie gesteht dem Kanzler Macht zu, er offenbart aber Schwäche, sobald er sie gebraucht.

Verbindlich für Minister

Ist das Machtwort einmal ausgesprochen, sind die Minister daran gebunden. Selbst öffentliche Äußerungen müssen im Einklang mit den vorgegebenen Richtlinien stehen. Sollte einem Regierungsmitglied die Richtlinie des Kanzlers nicht passen, bliebe nur der Rücktritt. "Dann würde man aber sehr dicht am Ende einer Koalition stehen", sagt Marschall.

Das Besondere an der AKW-Entscheidung von Bundeskanzler Scholz: Sie ist direkt verknüpft mit einer Gesetzesänderung. Den entsprechenden Entwurf kann die Regierung zwar vorlegen, beschlossen wird aber im Parlament. Das "Kanzlerprinzip" kümmert die Abgeordneten dort herzlich wenig - Scholz muss also auf die Stimmen der beiden kleineren Ampel-Parteien hoffen. Besonders die Grünen, die erst auf dem Parteitag am Wochenende ihre Position für einen eingeschränkten AKW-Weiterbetrieb absegnen ließen, reagierten verhalten auf sein Machtwort. Habeck appellierte bereits an seine Parteifreunde, die Regierung in dieser Situation nicht aufs Spiel zu setzen.

Es geht also um mehr als den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken. Für Scholz besteht das Risiko, vom Bundestag zurechtgewiesen zu werden. "Der Bundeskanzler hätte dann noch die Möglichkeit, die Machtfrage mit der Vertrauensfrage zu verbinden" so Marschall. Einen solchen Showdown hält der Experte aber für unwahrscheinlich. "Ich denke, die Fraktionen werden versuchen, einen Weg zu finden, dieses Gesetz möglich zu machen." Der Druck auf die Ampel, deren Regierungschef nach nur zehn Monaten sein letztes Mittel einsetzen musste, dürfte entsprechend groß sein.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen