Nicht länger "Putins Krieg" Selenskyjs Besuch zeigt, welch weiten Weg Scholz zurückgelegt hat


Selenskyj und Scholz vor dem Bundeskanzleramt in Berlin. Am Nachmittag flogen sie gemeinsam nach Aachen.
(Foto: dpa)
Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten in Berlin und Aachen spricht Olaf Scholz vom "russischen Angriffskrieg". Nicht einmal die Frage nach Kampfjets kann den Bundeskanzler aus der Ruhe bringen.
Nach dem russischen Überfall auf sein Land hat es eine Weile gedauert, bis der ukrainische Präsident nach Deutschland gekommen ist. Erstmals im Ausland war Wolodymyr Selenskyj im Dezember, als er nach Washington flog und eine Rede im US-Kongress hielt, seine zweite Auslandsreise führte ihn im Februar zur EU nach Brüssel, von wo er einen Abstecher nach Paris machte. Gerade weil er damals dort auch Bundeskanzler Olaf Scholz traf, wunderte man sich in Berlin, warum er nicht auch nach Deutschland kam - schließlich unterstützt die Bundesrepublik die Ukraine stärker als Frankreich dies tut.
Solchen Befindlichkeiten setzt der Besuch Selenskyjs in Deutschland ein Ende. Gut möglich, dass der Präsident den Kanzler unter vier Augen fragte, ob die Bundesregierung noch mehr tun könne - schließlich braucht die Ukraine jede Waffe, die sie bekommen kann, um sich gegen den Terror der russischen Luftangriffe zu verteidigen und um ihr Territorium zu befreien. Aber sowohl bei der Pressekonferenz im Kanzleramt als auch am Abend bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen machten beide, Scholz und Selenskyj, sehr deutlich, dass das deutsch-ukrainische Verhältnis auf Dauer angelegt ist. Es gab keine öffentliche Umarmung, wie zwischen Selenskyj und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Aber die beiden gingen sehr freundschaftlich miteinander um.
Scholz' eigene Zeitenwende
Vor der Presse in Berlin sagte Scholz, seit 444 Tagen laufe der "erbarmungslose russische Angriffskrieg", bei seiner Laudatio für Selenskyj in Aachen sagte er, in Europa tobe "ein grausamer Angriffskrieg" und ergänzte mit Nachdruck: "Russlands grausamer Angriffskrieg". Die Zitate verdeutlichen, was für einen weiten Weg Scholz zurückgelegt hat seit dem 24. Februar 2022, auch seit seiner "Zeitenwende"-Rede. Darin hatte er noch Wert darauf gelegt, dass dies "Putins Krieg" sei: Putin, nicht das russische Volk habe sich für diesen Krieg entschieden. In Aachen ist es Selenskyj, der sagt, "Putin alleine" habe diesen Krieg beschlossen.
Vermutlich würde auch Scholz das noch immer so sagen, doch nach 444 Tagen ist eben auch klar: Dies ist nicht nur "Putins Krieg". Auch sonst lässt Scholz in seiner Laudatio nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: Er wirft Kremlchef Wladimir Putin imperialistische Verblendung vor, den Freiheitskampf der Ukraine stellt er in die Tradition der europäischen Einigung und des Mauerfalls. Europaweit habe der Krieg eine Einsicht gefestigt: "Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie." Dem Anlass entsprechend - der Karlspreis wird für Verdienste um die europäische Einigung verliehen - betont auch Selenskyj diese Botschaft: Ohne die Ukraine werde die Europäische Union nicht vollständig sein. Er wirbt zudem für einen NATO-Beitritt der Ukraine. Scholz hatte sich bei diesem Punkt zuvor zurückhaltend gezeigt.
Und doch: Dies ist nicht mehr der Scholz, der auf der Bremse steht. Auf die unvermeidliche Frage eines Journalisten, ob Deutschland auch Kampfjets und Marschflugkörper liefern werde, reagiert der Bundeskanzler weder pampig noch abweisend. Noch im Januar hatte er bei dem Thema vor einem Überbietungswettbewerb gewarnt und die Lieferung von Kampfflugzeugen praktisch mit der Entsendung von Bodentruppen gleichgesetzt. Jetzt sagt er einfach gar nichts zum Thema Kampfjets, sondern zählt die anderen Waffenarten auf, die Deutschland liefere, und fügt hinzu: "Das ist das, worauf wir als Deutsche uns jetzt konzentrieren."
Ungeduld zeigt Selenskyj nicht mehr
Selenskyj betont die Dankbarkeit der Ukraine für die Unterstützung aus Deutschland. In Berlin sagt er, er arbeite derzeit an der Bildung einer "Kampfflugzeugkoalition". Welche Rolle die Bundesrepublik da einnehmen kann, bleibt offen; nach Ansicht von Experten wird Deutschland bei etwaigen Lieferungen von Kampfjets eher an der Seitenlinie stehen. Ein echter Konflikt scheint das Thema jedenfalls nicht zu sein: Selenskyj sagt, er könne bestätigen, dass Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine - nach den USA - heute an zweiter Stelle stehe. Er witzelt gar, "dass wir daran arbeiten werden, Deutschland auf den ersten Platz in der Unterstützung zu bringen". In Aachen dankt er dem "lieben Olaf" ausführlich für seine Führung, "für die Kraft, die du und ganz Deutschland Europa gibst".
Das alles klingt ganz anders als frühere Äußerungen, in denen sich der Präsident ungeduldig über die Zögerlichkeit des Bundeskanzlers gezeigt hatte. Im Februar etwa nannte er die Panzerdebatte im "Spiegel" mit leicht genervtem Unterton "emotional und komplex".
Scholz wäre nicht Scholz, wenn er den weiten Weg, den er beim Thema Ukraine zurückgelegt hat, nicht als planmäßig und zielgerichtet darstellen würde. Deutschland unterstütze die Ukraine "behutsam und klug abgewogen", sagt er. "Die Tatsache, dass wir das gemacht haben, ist vielleicht auch die Ursache dafür, warum die Unterstützung in Deutschland, anders als in dem einen oder anderen Land, ungebrochen hoch ist."
Quelle: ntv.de