"Sicherheit und Resozialisierung wichtig" Straftäter im "Kurs"-Programm
11.08.2010, 12:28 Uhr
Zu den Auflagen können Kontaktsperren zu Kindern gehören.
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Mit seiner Forderung "Wegschließen - und zwar für immer" gab Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2001 dem Interesse der Gesellschaft nach Sicherheit vor mehrfachen Gewalttätern ein neues Schlagwort. Doch trotz der Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gehen mehrere Bundesländer seit Jahren einen anderen Weg. Mit Konzeptionen zum Umgang mit besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftätern, kurz "Kurs", soll die Balance zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und Wiedereingliederungschancen für die Straftäter gefunden werden. Mit dem Programm lassen sich die Rückfallrisiken deutlich minimieren, sagt Kriminalrat Stefan Thomaßen, der die "Kurs"-Einführung in Nordrhein-Westfalen vorangetrieben hat.
n-tv.de: Was war die Ausgangslage vor der Einführung des Kurs-Programms?
Stefan Thomaßen: Es gab natürlich auch vorher schon eine Zusammenarbeit von Polizei und Justiz, vor allem was Sexualstraftäter angeht, die die Bevölkerung wegen ihrer Rückfallgefahr immer besonders beunruhigen. Das war aber immer eine Zusammenarbeit in Einzelfällen. Mit dem Konzept "Kurs" ist die Zusammenarbeit systematisch angelegt und wird damit deutlich verbessert.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ihrer jetzigen Form untersagt.
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Wer ist die Zielgruppe des Programms?
Das sind Sexualstraftäter, die wegen schwerer Sexualdelikte vorbestraft sind und die vom Gericht unter Führungsaufsicht gestellt sind.
Was hat sich durch das Programm bei der Entlassung dieser Straftäter geändert?
Die Zentralstelle "Kurs" beim Landeskriminalamt erfährt jetzt bereits drei Monate vor der Entlassung davon. Das ermöglicht uns ein sofortiges Handeln. Das ist besonders wichtig, weil wir durch wissenschaftliche Untersuchungen wissen, dass rund 50 Prozent der Rückfallstraftaten bei Sexualstraftaten bereits in den ersten sechs Monaten nach der Haftentlassung geschehen. Die ankommenden Informationen werden von erfahrenem Personal mit Mitteln der kriminalistischen Fallanalyse bewertet. Die Frage ist beispielsweise, ob der Sexualstraftäter Frauen oder Jungen oder Mädchen als Opfer ausgewählt hat. Welche Formen von Gewalt hat der Täter eingesetzt? Hat er seine Tat vorbereitet oder hat er eher spontan agiert? Diese Fragen bewerten wir und arbeiten dann die individuellen und jeweils bedeutsamen Gefahrenparameter heraus. Daraus werden dann konkrete Präventionsmaßnahmen und Auflagen abgeleitet. Zu der Sicht der in der Regel sozialarbeiterisch ausgebildeten Bewährungshelfer in den Führungsaufsichtsstellen kommt also die kriminalistische Bewertung. Dadurch haben alle ein genaueres Bild.
Wie kann das konkret aussehen?
Bei einem Mann, der bereits mehrfach wegen des Missbrauchs von Jungen vorbestraft war, haben wir aus den Informationen herausgearbeitet, dass der eine richtige "Masche" entwickelt hatte. Er sprach besonders alleinstehende Mütter mit Jungen an, erwarb sich deren Vertrauen, indem er ein Beziehungsinteresse vortäuschte, nahm dann eine Ersatzvaterrolle ein, die er schließlich für Missbräuche nutzte. Dieses Muster zu erkennen, war das eine. In Fallkonferenzen zusammen mit den Bewährungshelfern und den Verantwortlichen der Führungsaufsichtsstellen kamen dann die aktuellen Informationen hinzu. Der Mann lebte wieder mit einer Mutter mit einem Jungen zusammen. Da gingen sofort die Alarmleuchten an. Für uns war sofort klar, dass er in dieser Situation nicht bleiben kann. Der Führungsaufsichtsbeschluss wurde insofern angepasst, dass er keinen Kontakt zu dem Jungen mehr haben durfte und aus der Wohnung ausziehen musste. Die Mutter wurde selbstverständlich informiert, sie war nicht besonders zugänglich. Deshalb wurde zusätzlich das Jugendamt eingeschaltet, das ebenfalls zum Schutz des Kindes tätig wurde.
Das klingt dann alles schon sehr restriktiv, wie reagieren die entlassenen Straftäter auf dieses enge Korsett?
Sie werden ja schon bei der Haftentlassung informiert, dass sie in das "Kurs"-Programm aufgenommen werden. Inzwischen spricht sich unter den Straftätern auch herum, dass es jetzt eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen Bewährungshelfern, Führungsaufsicht und Polizei gibt. Besonders langjährig Inhaftierte sind oft auch sehr froh über diesen Gesprächskontakt. Da entwickelt sich manchmal ein Vertrauensverhältnis. Es gibt aber natürlich auch Leute, die ihre Rechte da eingeschränkt sehen.
Durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte werden jetzt Straftäter entlassen, für die eigentlich wegen erheblicher Rückfallgefahr Sicherungsverwahrung angeordnet war. Dabei handelt es sich auch um Sexualstraftäter, deren Zuzug oft große Ängste in der Bevölkerung auslöst. Inwieweit kann "Kurs" da Vorbild sein oder helfen?
Bei den Sicherungsverwahrten handelt es sich ja bei einem Großteil um Sexualstraftäter. Insofern greift "Kurs" hier auch. Für alle anderen haben wir eine Öffnungsklausel vereinbart, damit sie mit in dieses Konzept aufgenommen werden können. Da funktioniert das gleiche Prinzip, wir bündeln alle Informationen, bewerten sie in Fallkonferenzen und legen schon vor der Entlassung Maßnahmen fest, die neue Straftaten möglichst verhindern sollen. Auch hier ist eine differenzierte Betrachtung nötig, denn auch bei den Sicherungsverwahrten kann man nicht sagen, dass sie durchgehend hochgradig gefährlich sind.
Gibt es denn bereits Erfahrungen, ob das Programm etwas bewirkt?
Die Erfahrungen aus anderen Bundesländern machen uns Mut. Dort kann man beobachten, dass die Rückfallgefahr doch deutlich gesenkt wird. Bisher belegen Untersuchungen Rückfallquoten von 20 Prozent für Sexualstraftäter. Ich glaube, dass wir damit einen sehr guten Beitrag für mehr Sicherheit leisten. Mir sind aber die Sicherheit der Bevölkerung und die Resozialisierungschancen für die Haftentlassenen gleichermaßen wichtig. Man darf eben auch nicht vergessen, dass diese Menschen ihre Strafen verbüßt und eigene Persönlichkeitsrechte haben, die es zu beachten gilt. Unser Programm gibt ihnen die Möglichkeit zur Rückkehr in die Gesellschaft und auch das ist Bestandteil der Rückfallvermeidung.
Mit Stefan Thomaßen sprach Solveig Bach
Quelle: ntv.de