NSU-Ermittlungspannen in Thüringen Geheimdienst-Chef geht
03.07.2012, 22:30 Uhr
Sippel geht in den einstweiligen Ruhestand.
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Nach dem Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz nimmt nun auch der Präsident des Thüringer Landesamtes wegen der Pannen bei der Verfolgung der Neonazi-Terrorzelle seinen Hut. Thomas Sippel wird in den einstweiligen Ruhestand versetzt, teilt Innenminister Geibert mit. Bundesinnenminister Friedrich kündigt eine Reform der Institutionen an.
Die Affäre um Pannen bei der Verfolgung der Zwickauer Neonazi-Terrorzelle hat weitere Konsequenzen. Der Thüringer Verfassungsschutzpräsident Thomas Sippel muss sein Amt aufgeben. Der 55-Jährige werde in den einstweiligen Ruhestand versetzt, teilte Landesinnenminister Jörg Geibert von der CDU mit. Erst am Montag hatte der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, seinen Rückzug zum 31. Juli angekündigt. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU denkt nun über eine Reform des Verfassungsschutzes nach.

Der eine hat keine Arbeit mehr, der andere bald noch mehr als bisher: Ex-Verfassungsschutz-Chef Heinz Fromm und Innenminister Hans-Peter Friedrich.
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Sippel und er hätten sich in einem Gespräch auf den Amtsverzicht verständigt, sagte Geibert: "Der Verfassungsschutzpräsident hat nicht mehr das Vertrauen des Parlaments." Sippel, der das Amt seit November 2000 führte, stand zuletzt wegen seiner Informationspolitik zur "Operation Rennsteig" bei der Verfolgung des Neonazi-Trios bei den Landtagsabgeordneten stark in der Kritik. Der thüringische Verfassungsschutz hatte dabei gemeinsam mit dem Bundesverfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) zwischen 1997 und 2003 versucht, Informanten beim Thüringer Heimatschutz anzuwerben, dem früher auch das Neonazi-Trio der Terrorzelle angehörte.
Vor wenigen Tagen war bekanntgeworden, dass Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 Akten über die Neonazi-Szene zerschreddert hatten, nachdem die Zwickauer Terror-Zelle aufgeflogen war. Dies hatte der Bundesbehörde scharfe Kritik und den Vorwurf der Vertuschung eingetragen, woraufhin Fromm seinen Amtsverzicht erklärte.
Wenige Stunden vor der Bekanntgabe von Sippels Abgang berichtete der MDR, dass der thüringische Landesverfassungsschutz doch mehr Akten zur "Operation Rennsteig" habe als zugegeben. Es handle sich um zwei Ordner, die umgehend dem Untersuchungsausschuss des Landtags in Erfurt zur Verfügung gestellt werden sollten. Das Parlamentarische Kontrollgremium des Landtags erwarte für Mittwoch einen umfassenden Bericht zu der Geheimdienstaktion.
"Der Rückzug Fromms reicht nicht aus"
Friedrich sagte im Deutschlandfunk, die Fehler des Verfassungsschutzes dürften nicht ohne Konsequenzen bleiben. Nach dem Ausscheiden Fromms "werden wir ganz in Ruhe über Reformen oder über Veränderungen beim Verfassungsschutz reden". Die FDP dringt auf einen Umbau der kompletten Sicherheitsarchitektur in Deutschland.

Zukunft ohne "Schlapphut-Image"? Der deutsche Verfassungsschutz steht vor einer ungewissen Zukunft.
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Der FDP-Innenexperte Manuel Höferlin sieht auch den Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, in der Verantwortung. "Der Rückzug Fromms reicht nicht aus. Aus dem Versagen der Sicherheitsbehörden müssen weitere personelle Konsequenzen folgen", sagte Höferlin der "Bild"-Zeitung. "Das betrifft insbesondere BKA-Chef Jörg Ziercke."
Noch stärker als über das Personal wird über institutionelle Reformen debattiert. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle forderte in der "Rheinischen Post" "eine grundlegende Reform der Strukturen der Sicherheitsinstitutionen". Zugleich sprach er sich für eine stärkere Verzahnung der Landesämter und des Bundesamts für Verfassungsschutz aus. Auch der Grünen-Chef Cem Özdemir sagte dem "Hamburger Abendblatt", der Verfassungsschutz müsse komplett auf den Prüfstand. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, plädierte sogar dafür, über seine Abschaffung nachzudenken.
"Vom Schlapphut-Image verabschieden"
Der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sagte, der Verfassungsschutz müsse sich vom Schlapphut-Image verabschieden. "Verfassungsschützer müssen nicht in erster Linie Geheimdienstler sein, sondern geschulte Demokraten, mit einem richtigen Gespür für die Gefahren, die unserer Demokratie drohen." Auch das Parlamentarische Kontrollgremium könnte "noch professioneller arbeiten", wie der Vergleich mit den USA zeige, wo die beiden Kontrollausschüsse jeweils rund 60 Mitarbeiter hätten.
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages kam derweil zu weiteren Zeugenvernehmungen zusammen. Am Mittwoch sollen die Obleute Einsicht in geheime "Rennsteig"-Akten des Bundesverfassungsschutzes nehmen dürfen. In den Reihen des Ausschusses war die Frage aufgeworfen worden, ob Verfassungsschützer im Rahmen der "Operation Rennsteig" versucht haben könnten, unter NSU-Mitgliedern Spitzel anzuwerben, und dass ein Teil der Akten deshalb vernichtet worden sei. Am Donnerstag soll auch Fromm dem Gremium Rede und Antwort stehen. Der Ausschuss untersucht, wie es zur Mordserie der Neonazi-Terroristen mit zehn Toten kommen konnte.
In der Sitzung am Dienstag tauchten neue ungeklärte Fragen zur Rolle des Verfassungsschutzes nach dem Kölner Nagelbombenattentat 2004 auf. Die Tat wird der Neonazi-Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zugeordnet. Zudem geriet nach dem Verfassungsschutz nun auch der MAD in die Kritik. Mitglieder des Untersuchungsausschusses warfen dem Bundeswehr-Nachrichtendienst vor, relevante Akten zurückzuhalten. Abgeordnete berichteten von der Vorlage geschwärzter Dokumente ohne Erkenntniswert. Er habe den Eindruck, die Aufklärung werde ein "bisschen behindert", sagte Ausschusschef Sebastian Edathy von der SPD.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP