Kritische Fragen an den Kreml Tod durch Geheimhaltung
29.10.2002, 13:08 UhrBei der Bewertung des russischen Einsatzes zur Beendigung des Geiseldramas von Moskau haben die USA offenbar eine Wende vollzogen. US-Botschafter Alexander Vershbow schloss am Dienstag nicht aus, dass ein Teil der 117 getöteten Geiseln noch leben würde, wenn Russland kein Geheimnis um das bei der Befreiungsaktion eingesetzte Gas machen würde.
"Es ist klar, dass mit vielleicht ein bisschen mehr Informationen zumindest einige Geiseln mehr hätten überleben können", sagte Vershbow in Moskau. Auch Ärzte kritisierten, dass ihnen keine Informationen über das Gas zur Verfügung gestellt worden seien.
Es seien sogar noch alle 763 Geiseln am Leben gewesen, als sie aus dem Theater geschleppt wurden, sagte der oberste Amtsarzt von Moskau, Andrej Selzowski, nach Angaben der "Moscow Times". Viele bewusstlose Geiseln wurden ohne Versorgung in Nahverkehrsbusse gesetzt, warteten dort auf die Abfahrt. Sie hätten aber dringend künstlich beatmet und mit einem Gegenmittel versorgt werden müssen.
Hunderte Festnahmen
Bei Razzien der Armee in Tschetschenien wurden nach russischen Angaben hunderte Menschen festgenommen. In Moskau wurden nach Regierungsangaben mehrere Dutzend mutmaßliche Helfershelfer des Tschetschenen-Kommandos festgenommen. Bei einigen Verdächtigen wurden laut Staatsanwaltschaft Spuren von Sprengstoff gefunden.
Amnesty startet Russland-Kampagne
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat unterdessen schwere Vorwürfe gegen die russische Regierung erhoben. Russland sei ein Land "ohne echte Rechtsprechung und Gerechtigkeit", heißt es in einem Russland-Report der Organisation, der am Dienstag in Paris veröffentlicht wurde. Amnesty startete am Dienstag eine weltweite Russland-Kampagne.
Die deutsche Sektion von Amnesty forderte die Bundesregierung auf, in Russland auf die Umsetzung internationaler Menschenrechtsstandards zu drängen. Amnesty-Generalsekretärin Barbara Lochbihler sagte in Berlin, Bundeskanzler Gerhard Schröder spare bei Unterredungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin das Thema zu häufig aus.
Schröder sprach sich für eine politische Lösung des Tschetschenien-Konflikts aus. Zugleich sagte er: "Wir setzen die Politik der freundschaftlichen Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwortung fort."
Weiter Unklarheit über Betäubungsgas
US-Experten vermuten, dass das bei der Beendigung des Geiseldramas in Moskau eingesetzte Gas eine Aerosol-Version des starken Opiats Fentanyl enthielt. Das berichtete die "New York Times" am Dienstag unter Berufung auf amerikanische Regierungsbeamte.
Zugleich hieß es, es handele sich um einen Verdacht und nicht um ein sicheres Wissen, da sich die russischen Behörden geweigert hätten, den USA Informationen über die Art des Gases zu geben.
Vier Tage nach der Beendigung des Moskauer Geiseldramas sind inzwischen 418 der bei der Befreiungsaktion verletzten Menschen wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. 245 Menschen müssten jedoch nach wie vor behandelt werden, meldete die Nachrichtenagentur Interfax am Dienstagabend unter Berufung auf die Gesundheitsbehörden. 16 davon befänden sich in kritischem Zustand. Auch sechs Kinder sind demnach noch im Krankenhaus.
Die beiden deutschen Ex-Geiseln wurden am Dienstag aus einem Münchner Klinikum zu ihren Familien entlassen.
Quelle: ntv.de