"Versuchte ethnische Säuberung" UN: Gewalt war geplant
15.06.2010, 17:30 Uhr
Auf der Flucht: Kirgisische Frauen in einem Flüchtlingslager in Usbekistan.
(Foto: APN)
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind die Übergriffe gegen die usbekische Minderheit in Kirigisistan gezielt vorbereitet und koordiniert worden. Die OSZE verurteilt die Gewalt als "versuchte ethnische Säuberung", das Rote Kreuz spricht von hunderten Toten. Die Lage der Flüchtlinge spitzt sich derweil zu.
Nach der Gewalt zwischen den Volksgruppen in Kirgisistan nimmt die Sorge über das Schicksal der Zehntausenden Flüchtlinge zu. Die Behörden im benachbarten Usbekistan berichten von 75.000 Menschen, die auf ihrer Seite der Grenze Schutz suchten, sagte der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Miroslav Jenca. "Aber diese Zahl steigt und könnte bald bei mehr als 100.000 liegen." Es müsse unbedingt verhindert werden, dass die Gewalt zwischen Kirgisen und Usbeken im Süden Kirgisistans auf andere Teile Zentralasiens übergreife.
Auslöser der jüngsten Unruhen war nach UN-Angaben eine koordinierte Serie von Überfällen in der südkirgisischen Stadt Osch. "Wir haben starke Hinweise darauf, dass es sich hier nicht um einen spontanen, ethnisch motivierten Gewaltausbruch handelt, sondern dass es zu einem gewissen Grad orchestriert, geplant und gezielt durchgeführt wurde", sagte ein Sprecher der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay. Das Büro von Pillay habe in den vergangenen Tagen Berichte von Augenzeugen gesammelt und ausgewertet. Mehrere dieser Berichte würden nahelegen, dass die Unruhen mit fünf parallelen Überfällen in Osch begannen, wobei die Täter bewaffnet und mit Sturmmasken vermummt gewesen seien. "Es scheint, als ob sie bewusst eine Reaktion provozieren wollten", sagte Pillays Sprecher.
Die heftigsten Kämpfe zwischen den ethnischen Gruppen seit 20 Jahren waren am Donnerstagabend ausgebrochen. Nach Schätzungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) sind bei den Auseinandersetzungen hunderte Menschen ums Leben gekommen. Einsatzkräfte des IKRK hätten vor Ort festgestellt, dass die Zahl wesentlich höher sein müsse als bisher von den Behörden in Bischkek angegeben, sagte IKRK-Sprecher Christian Cardon. Nach seinen Angaben besuchten IKRK-Vertreter unter anderem die Leichenhalle in Osch, wo die blutigen Unruhen begonnen hatten. Das kirgisische Gesundheitsministerium hatte zuletzt von mindestens 170 Toten und fast 1800 Verletzten gesprochen. Allerdings hatte auch die Chefin der Übergangsregierung, Rosa Otunbajewa, gesagt, die tatsächliche Zahl der Toten könnte um ein Vielfaches höher liegen. In Osch selbst blieb es vorerst ruhig.
WFP bringt Lebensmittel
Der UN-Sicherheitsrat hat die Gewalt in Kirgisistan verurteilt und eine Beilegung des Konflikts zwischen den ethnischen Gruppen gefordert. Das Gremium rief zudem zu humanitärer Hilfe für das zentralasiatische Land auf. Die UNO weitete ihre Hilfslieferungen in das Krisengebiet aus, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bot Hilfe bei der Regelung des Konflikts an.
Die OSZE verurteilte die Gewalt als "versuchte ethnische Säuberung". Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten, Knut Vollebaek, sprach in Wien von einer "dramatischen Entwicklung". Usbeken würden von kirgisischen Gruppen systematisch angegriffen, wobei es zu Morden und Plünderungen komme. Otunbajewa habe "trotz guter Absichten" nicht die Macht, in ihrem Land Recht und Ordnung durchzusetzen, hieß es in einer Mitteilung der OSZE.

Die Chefin der Übergangsregierung, Rosa Otunbajewa, gibt dem gestürzten Präsidenten eine Mitschuld an den Übergriffen.
(Foto: AP)
Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) begann mit einer Notmission für Kirgistan, um Lebensmittel und logistische Hilfe bereit zu stellen. Die Organisation rief alle Seiten dazu auf, die Auslieferung vor allem in Osch zu erlauben. Derzeit lagere das WFP 3000 Tonnen Nahrungsmittel in Kirgistan. Dies reiche aus, um 87.000 Menschen zwei Monate lang zu ernähren.
Deutsche Botschaft hilft
Das Auswärtige Amt organisierte in der Nacht zu Dienstag die Evakuierung von 89 Europäern und anderen Ausländern aus Osch. Die deutsche Botschaft in Bischkek sei die einzige Vertretung eines EU-Staates vor Ort, sagte Außenminister Guido Westerwelle. Zudem stelle Deutschland 500.000 Euro für humanitäre Hilfen zur Verfügung, um die Lage der zahlreichen Flüchtlinge zu verbessern. Westerwelle rief alle Seiten zur Beendigung der Gewalt auf.

Flüchtlingsdrama: Angehörige der usbekischen Minderheit vor der Grenze des Nachbarlandes.
(Foto: AP)
Am Montagabend hatte der UN-Untergeneralsekretär für politische Angelegenheiten, Lynn Pascoe, die Einrichtung eines sicheren Korridors für Hilfslieferungen gefordert. "Die wichtigste Aufgabe ist jetzt, das Blutvergießen zu beenden", erklärte Jenca. Es müsse eine Ausbreitung des Konflikts verhindert werden. Die kirgisische Übergangsregierung befürchtet ebenfalls ein Übergreifen der Gewalt auf Gebiete im Norden und die Hauptstadt Bischkek. Nach den Erfahrungen in Osch gehe er davon aus, dass es auch dort zu Provokationen kommen werde, sagte Vize-Ministerpräsident Almasbek Atambajew. Die Regierung sei aber gut darauf vorbereitet.
Strategische Interessen
Die Übergangsregierung kann dabei aber offenbar nicht auf Truppen des Sicherheitsbündnisses OVKS hoffen. Dies teilte Interimspräsidentin Otunbajewa mit. Zu der Organisation gehören neben Kirgistan und Russland auch Usbekistan, Weißrussland, Armenien, Kasachstan und Tadschikistan. Diskutiert wurde, Militärhubschrauber und -fahrzeuge der OVKS in das Krisengebiet zu schicken. Trotz der Gewalt will die Übergangsregierung am 27. Juni an einer Volksabstimmung über die neue Verfassung festhalten.
Die Unruhen haben in Russland und den USA für große Beunruhigung gesorgt. Beide Länder unterhalten Militärstützpunkte in dem Land. Seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Kurmanbek Bakijew im April ist es der Übergangsregierung nicht gelungen, die volle Kontrolle über den Süden des Landes zu übernehmen. Die Regierung hatte erklärt, Anhänger Bakijews stünden hinter den Gewalttaten. Schwere Vorwürfe richtete sie vor allem an den Sohn, Maxim Bakijew. Der von Interpol gesuchte 32-Jährige, der am Montag bei seiner Einreise in Großbritannien festgenommen worden war, schüre den Konflikt seit April. Zehn Millionen Dollar habe Maxim Bakijew bereits seinen Anhängern zur Verfügung gestellt, sagte Vizepräsident Almasbek Atambajew. Er warf dem Präsidenten-Spross Verwicklung ins internationale Verbrechen vor. Ex-Präsident Bakijew, der sich in Weißrussland im Exil befindet, hat alle Vorwürfe zurückgewiesen.
Quelle: ntv.de, dpa/rts/AFP