Einkommens-Ungleichheit wächst US-Mittelschicht unter Druck
28.07.2008, 10:14 UhrAm Ende hatte Dave (43) das Glück des Tüchtigen, und es kam gerade rechtzeitig. "Neun Monate war ich arbeitslos, hatte 20 oder 30 Vorstellungstermine, zehnmal war es ganz knapp, dann hat es geklappt", breitet der Techniker aus der Hauptstadt Washington die Bilanz seiner düsteren Zeit ohne Job aus. Mit der neuen Stelle wird alles besser, ist sich Dave sicher. Aber auch wenn sie in Lohn und Brot stehen, haben Durchschnitts-Amerikaner wie er nicht unbedingt viel zu lachen. "Die ganz normalen Fixkosten werden immer höher. Es ist wirklich schlimm", berichtet der Vater einer kleinen Tochter. Im Rennen um das Weiße Haus haben der Demokrat Barack Obama wie auch sein republikanischer Rivale John McCain ein waches Auge auf solch zunehmende Nöte, die vielleicht wahlentscheidend sind.
Viele Ökonomen haben keinen Zweifel, dass Mittelschicht-Familien wie die von Dave angesichts immer größerer Einkommens-Ungleichheit nicht nur vom Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre kaum etwas hatten. Schon in den 80er Jahren, schreibt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman, hätten Experten zu dokumentieren begonnen, wie die Schere rapide auseinandergeht: "Eine kleine Zahl Leute zog weit davon, während die meisten Amerikaner wenig oder keinen wirtschaftlichen Fortschritt sahen." Heute, stellt der Kolumnist der "New York Times" fest, "haben wir dieselbe Einkommens-Ungleichheit wie in den 20er Jahren."
"Marktverliebte Politiker und ihre Helfer"
Erst von wenigen Tagen veröffentlichte Zahlen der US- Steuerbehörden belegen den Trend: 2006 strich das wohlhabendste Prozent der Bevölkerung 22 Prozent des US-Gesamteinkommens ein - der höchste Anteil seit zwei Jahrzehnten. Gleichzeitig fiel der durchschnittliche Steuersatz für diese Gruppe auf den niedrigsten Stand seit 18 Jahren. "Über die vergangenen drei Jahrzehnte setzten marktverliebte Politiker und ihre Helfer aus der Unternehmenswelt die gewaltigste Umverteilung von Wohlstand der modernen Weltgeschichte ins Werk", formulieren John Cavanagh und Chuck Collins vom Washingtoner Forschungsinstitut Institute for Policy Studies.
Nicht nur stagniert inflationsbereinigt das Einkommen von "Average Joe", dem Durchschnittsamerikaner, schon seit langem - zugleich muss er rasant steigende Kosten für die ohnehin teure Krankenversicherung und jüngst auch noch explodierende Benzin- und Lebensmittelpreise verkraften. Erst vorige Woche berief der US-Kongress alarmiert eine Expertenanhörung ein. "Noch nie seit der Depression (der 30er Jahre) standen derart viele Familien am Abgrund", gab die Harvard- Professorin Elizabeth Warren vor dem Wirtschaftsausschuss von Senat und Repräsentantenhaus zu Protokoll. "Familien müssen den Gürtel enger schnallen. Die Kosten reißen ein Loch, das sie einfach nicht mehr stopfen können."
Wo Bares fehlt, ist Plastik Trumpf. Inzwischen gehen laut Warren zehn Prozent des verfügbaren Einkommens der Amerikaner dafür drauf, Kreditkartenschulden abzuzahlen. Vor der Immobilienkrise konnten sich die US-Bürger wenigsten noch über den steigenden Wert ihrer Häuser freuen - und die eigenen vier Wände wie einen gigantischen Geldautomaten nutzen, indem sie ihre Häuser immer stärker beliehen. Doch damit ist es nun auch vorbei. Laut Cavanagh und Collins ist die Verschuldung der US-Haushalte inzwischen auf dem höchsten Niveau seit 1933 angekommen.
Immer höhere Rechnungen
"Ein stiller Schrei ist zu vernehmen, wenn Mittelschicht-Familien zum Abendbrot zusammenkommen und jedes Mal darüber rätseln, wie sie ihre immer höheren Rechnungen bezahlen sollen", sagt der Vorsitzende des gemeinsamen Wirtschaftsausschusses im US-Kongress, der Demokrat Charles Schumer. "Die Mittelschicht ist der Motor unserer Wirtschaft, aber ihr Einkommen und ihre wirtschaftliche Sicherheit ist in den vergangenen sieben Jahren geschrumpft." Denn auch Bürojobs sind in den USA längst keine Bastion gegen Arbeitslosigkeit mehr. Erst vergangene Woche kündigte der krisengeschüttelte US-Autobauer Chrysler an, im Rahmen seines Sparkurses weitere 1000 Arbeitsplätze von Angestellten zu streichen. Es ist nur ein Beispiel von vielen.
Für Princeton-Professor Krugman ist es kein Zufall, dass die gesellschaftliche Kluft in den USA just zu dem Zeitpunkt größer wurde, als die Konservativen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre immer mächtiger wurden. "Das Erstarken der harten Rechten ermutigte die Unternehmen zum Frontalangriff auf die Gewerkschaften, was die Verhandlungsmacht der Arbeiter drastisch einschränkte", schreibt der Ökonom. "Manager entledigten sich politischer und sozialer Zügel, die einer zuvor überbordenden Bezahlung Grenzen setzten. Steuern auf Spitzeneinkommen wurden drastisch gesenkt."
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Viele Amerikaner, gerade aus der Mittelschicht, scheinen die Lasten indes mit einem Schulterzucken hinzunehmen. Offen beklagt sich kaum einer. "Immerhin ist dies das Land der unbegrenzten Möglichkeiten", sagt Dave, der Techniker. Und nur wenn man ihm ganz genau zuhört, mag man einen Anflug von Sarkasmus entdecken.
Frank Brandmaier, dpa
Quelle: ntv.de