Mehr Geld und Waffen Ukrainische Armee steht besser da als 2014
08.02.2022, 17:08 Uhr
"Es ist kein Geheimnis, dass die russische Armee größer und stärker ist", sagt ein Analyst - doch auch die ukrainische Armee ist heute besser aufgestellt als noch vor acht Jahren. Das Militär nähert sich den Standards der NATO an. Dennoch sehen viele Experten weitere Schwachstellen.
Im Jahr 2014 meldete sich Pawlo Dolynski freiwillig, um gegen die prorussischen Aufständischen im Osten der Ukraine zu kämpfen. "Damals war die Armee in einem erbärmlichen Zustand", erinnert er sich. Es fehlte an Waffen, Stiefeln und Uniformen. Die wenige Ausrüstung stammte noch aus Sowjetzeiten und war veraltet.
"Die Armee war an einem Punkt angelangt, an dem sie dem Feind nicht mehr standhalten konnte", sagt der ehemalige Soldat, der jetzt für eine Veteranenorganisation arbeitet. Jahrelange Vernachlässigung und Korruption hatten das ukrainische Militär geschwächt. Nur mithilfe von Freiwilligenbataillonen konnte dem offensichtlich von Russland militärisch unterstützten Vormarsch im Osten des Landes etwas entgegen gesetzt werden.
Nun droht Kiew ein neuer Krieg. Nach westlichen Angaben hat Moskau mehr als hunderttausend Soldaten an der ukrainischen Grenze stationiert. Sollten die russischen Truppen tatsächlich einmarschieren, ist die ukrainische Armee aber weit besser gerüstet als vor acht Jahren.
Hilfe aus dem Westen
Durch den jahrelangen Konflikt mit den separatistischen prorussischen Truppen im Osten des Landes, in dessen Verlauf rund 13.000 Menschen getötet wurden, ist sie inzwischen kampferprobt. Reformen und Hilfe aus dem Westen haben das ukrainische Militär gestärkt.
"Vor acht Jahren existierte die ukrainische Armee nur auf dem Papier", sagt Mykola Beleskow, ein Militäranalyst am Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew. "Jetzt hat die Ukraine ihre besten Streitkräfte seit der Unabhängigkeit vor 30 Jahren."
Die prowestlichen Behörden des Landes näherten die Armee an die Standards der NATO an, der Militärhaushalt wurde bis 2021 auf 3,5 Mrd. Euro verdreifacht. Reformen wurden auf den Weg gebracht, die Korruption bekämpfen und die Führung verbessern sollen.
Die USA haben seit 2014 Militärhilfe im Wert von 2,5 Mrd. US-Dollar (2,2 Mrd. Euro) bereitgestellt, NATO-Verbündete wie Kanada und Großbritannien schickten Ausbilder - zum Missfallen Moskaus. Vergangene Woche unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Erlass, wonach die Armee binnen drei Jahren um 100.000 Soldaten auf 360.000 aufgestockt werden soll. Er versprach außerdem, den Sold zu erhöhen und die Wehrpflicht bis 2024 abzuschaffen.
Die Waffenlieferungen aus dem Ausland haben die Schlagkraft der ukrainischen Armee deutlich erhöht. Inzwischen verfügt sie unter anderem über TB2-Kampfdrohnen des türkischen Herstellers Bayraktar sowie britische und US-Panzerabwehrraketen.
Schiffsflotte geschwächt
Sam Cranny-Evans, Analyst am RUSI-Institut in London, sieht dennoch Schwachstellen, vor allem bei der Luftabwehr und der Aufklärung. Auch die Marine hat Defizite: Kiew verlor nach US-Angaben 70 Prozent seiner Schiffsflotte, als Russland 2014 die strategisch günstig am Schwarzen Meer gelegene Halbinsel Krim annektierte.
Ein weiteres Problem ist trotz der Reformbemühungen immer noch die Korruption. "Es ist weithin anerkannt, dass der Weg der Ukraine zu Reformen und zum Aufbau angemessener militärischer Fähigkeiten von der Beseitigung der Korruption im Verteidigungssektor abhängt", heißt es in einer Analyse des Nachrichtendienstes Janes.
Obwohl es immer noch an Ausrüstung gegen Scharfschützen, Panzer und Luftangriffe mangele, sei seit 2014 ein "großer Schritt nach vorn" gemacht worden, sagt der Kommandeur der Bodentruppen, Oleksandr Sirski. Die ukrainischen Streitkräfte verfügten über Hunderttausende Reservisten, und die Freiwilligenbataillone seien integriert.
"Es ist kein Geheimnis, dass die russische Armee größer und stärker ist", sagt der Analyst Beleskow. Er weist jedoch darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte im Falle einer größeren Invasion und dem Versuch Russlands, das Territorium anschließend zu halten, immer noch einen kostspieligen "Zermürbungskrieg" führen könnten - vor allem, wenn weiterhin westliche Waffen ins Land strömten. "Sagen wir, es wäre sehr schwierig für uns. Aber für die Russen wäre es auch nicht einfach."
Quelle: ntv.de, Max Delany/AFP