Flucht aus Kirgisistan Usbekistan steuert auf Krise zu
14.06.2010, 16:55 Uhr
In einem Dorf nahe Dschalal-Abad tröstet ein Mädchen seine Schwester.
(Foto: dpa)
Mindestens 60.000 Flüchtlinge aus Kirgisistan sind bereits im benachbarten Usbekistan angekommen - und der Flüchtlingsstrom hält an. Die Banden, die Jagd auf die usbekische Minderheit in Kirgisistan machen, werden offenbar von der kirgisischen Armee unterstützt. Russland erwägt militärisches Eingreifen.
Nach den Unruhen in Kirgisistan bahnt sich in der Region eine Flüchtlingskatastrophe an. Zehntausende Angehörige der usbekischstämmigen Minderheit flüchteten vor der Verfolgung durch kirgisische Banden in das benachbarte Usbekistan, wo sich die Behörden um humanitäre Hilfe für die Vertriebenen bemühen. Die kirgisische Regierung bekommt die Gewalt im Süden des Landes nicht in den Griff.
Das usbekische Katastrophenschutzministerium gab die Zahl der Flüchtlinge in der Region Andidschan im Osten des Landes mit mindestens 60.000 an. Allerdings erfasste das Ministerium lediglich die erwachsenen Flüchtlinge, tausende Kinder blieben in der vorläufigen Aufstellung unberücksichtigt. Schätzungen einiger Behördenvertreter gehen von mehr als 100.000 Flüchtlingen aus.
Auslöser des Flüchtlingsstroms sind die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Angehörigen der usbekischen Minderheit, die den Süden Kirgisistans seit vergangenem Freitag erschüttern. Dabei kamen nach neuen Angaben des kirgisischen Gesundheitsministeriums mindestens 124 Menschen ums Leben, mehr als 1600 Menschen wurden verletzt. Bewaffnete kirgisische Banden hatten in der Stadt Osch Geschäfte und Häuser der usbekischen Minderheit attackiert, die etwa 15 Prozent der Bevölkerung der ehemaligen Sowjetrepublik ausmacht. Auch die Region um die Stadt Dschalal-Abad wurde von der Gewalt erfasst.
Armee an Vertreibungen beteiligt
Die Hintergründe der Vertreibung sind unklar. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor bald 20 Jahren hat Kirgisistan keine derartige Gewalt mehr zwischen den Ethnien erlebt. Jeder der Ankömmlinge hat seine eigene Horrorgeschichte - und doch ähneln sie sich: Immer wieder erzählen sie, wie bewaffnete kirgisische Banden Jagd auf Usbeken machen, und dabei von regulären kirgisischen Streitkräften unterstützt werden.
"Soldaten kamen zu uns und sagten uns, wir sollten nach Hause gehen, es herrsche Ausgangssperre. Dann aber ließen sie es zu, dass bewaffnete Banden unsere Häuser in Brand steckten und alle umbrachten", berichtete ein alter Mann. Eine junge Mutter erzählte, wie sie nach der Flucht aus ihrem brennenden Haus von Scharfschützen beschossen wurde.
"So verhält sich keine Armee"
Ein desertierter Soldat bestätigt die Angaben. Er habe miterlebt, wie seine Kameraden gemeinsam "mit bewaffneten Banditen" das Feuer auf Usbeken eröffneten, sagte der Offizier einer Panzereinheit, Bachtjor Scharipow. "So verhält sich keine Armee. Die Anweisungen des Verteidigungsministeriums lauteten, nicht auf Zivilisten zu schießen. In Osch aber scheren sich Polizei und Soldaten keinen Deut um die Anordnung", sagt der 30-Jährige, der selbst Usbeke ist. Er sagt, sein Vorgesetzter Oberst Chursand Assanow habe die Schüsse ausdrücklich genehmigt.
Das Verhältnis zwischen beiden Bevölkerungsgruppen ist vor allem wegen der wirtschaftlichen Ungleichheit angespannt. Die politische Situation in Kirgisistan ist seit dem Sturz von Staatschef Kurmanbek Bakijew im April, bei dem 87 Menschen ums Leben kamen, äußerst instabil. Die Übergangsregierung unter Präsidentin Rosa Otunbajewa will Ende Juni eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung abhalten.
Die Übergangsregierung räumte ein, dass die kirgisischen Streitkräfte weiter nicht in der Lage seien, den bewaffneten Gruppen Einhalt zu gebieten. In Dschal-Abad habe sich die Situation sogar noch verschlimmert, sagte der stellvertretende Regierungschef Temir Sarijew. Die Übergangsregierung hatte Russland um militärische Unterstützung gebeten.
Russland erwägt Intervention
Russische Regierungsvertreter berieten eine Intervention. Die Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit (OVKS) diskutiere über die Lage, zitierte die Nachrichtenagentur RIA Nowosti den Chef des nationalen russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew. Es gehe darum, die Ordnung wiederherzustellen und den ethnischen Konflikt zu beenden. Der OVKS gehören neben Kirgisistan und Russland auch Usbekistan, Weißrussland, Armenien, Kasachstan und Tadschikistan an.
Die Unruhen haben nicht nur in Russland, sondern auch in den USA für Beunruhigung gesorgt. Beide Länder unterhalten Militärstützpunkte in dem Land.
Quelle: ntv.de, AFP/rts