Kabinett macht Weg frei Vertriebenenzentrum kommt
19.03.2008, 16:20 UhrMehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekommt Deutschland ein Dokumentationszentrum zu Flucht und Vertreibung. Das Bundeskabinett stimmte einem entsprechenden Konzept von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) zu. Das Zentrum wird seinen Sitz in Berlin in der Nähe des Potsdamer Platzes haben. Gegen das vom Bund der Vertriebenen initiierte Vorhaben hatte es jahrelangen heftigen Widerstand vor allem aus Polen gegeben. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte das im Koalitionsvertrag vereinbarte "Sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung" aber besonders unterstützt.
Das Dokumentationszentrum wird unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums in Berlin angesiedelt. Es soll Erinnerung und Gedenken an das "Jahrhundert der Vertreibungen" und das damit verbundene tiefe menschliche Leid in Europa wach halten und zur Versöhnung beitragen. Dabei sollen "der historische Kontext, Ursachen und Beweggründe von Flucht und Vertreibung differenziert dargestellt werden".
Geplant ist auch die Dokumentation persönlicher Einzelschicksale der 12 bis 14 Millionen deutschen Vertriebenen sowie der Angehörigen anderer Völker, deren Vertreibung von deutscher Seite verursacht wurde - etwa der 1,5 Millionen Polen, die nach dem Krieg aus dem sowjetisch annektierten Ostpolen nach Westen geschickt wurden.
Nationalsozialistische Verbrechen dokumentieren
"Ausreichend dokumentiert" werden sollen dabei die nationalsozialistischen Verbrechen besonders in Polen und Tschechien, den anderen Ländern Ostmitteleuropas und der Sowjetunion, die Flucht und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg vorausgegangen waren. Aber auch die Jahrhunderte währende Siedlungs- und Kulturgeschichte der Deutschen in diesen Gebieten soll einbezogen werden.
Die genaue Zahl der Betroffenen ist ebenso umstritten wie die historische Einordnung der Vertreibung. In Osteuropa gilt sie als Reaktion auf die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Vor allem Polen hatte daher Bedenken, dass das deutsche Projekt die Verbrechen der Nationalsozialisten relativieren könnte. Die Vertriebenen verlangen dagegen die Anerkennung für ihr Leid und eine klare Verurteilung der Vertreibung als Verbrechen.
Staatsminister Neumann sprach von einem wichtigen Schritt zur "Aufarbeitung eines schmerzlichen Teils deutscher und europäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts". Das herausragende historische Gedenkprojekt sei eine der schwierigsten Aufgaben seiner Amtszeit. "Es war mir auch ein großes Anliegen, die Unstimmigkeiten mit unserem Nachbarn Polen in der Frage des Gedenkens an Flucht und Vertreibung beizulegen. Vize-Regierungssprecher Thomas Steg sagte, das Zentrum diene "der Aussöhnung und der Versöhnung bei der historischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur".
Die Entscheidung der Bundesregierung stiess bei Politikern, Parteien und Verbänden überwiegend auf Zustimmung. Nur die Linke kritisierte, der Kabinettsbeschluss öffne "den Weg in staatlich subventionierten Geschichtsrevisionismus".
Der Bund der Vertriebenen begrüßt die Entscheidung
Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, begrüßte die "wichtige und längst überfällige Entscheidung" für ein würdevolles Dokumentationszentrum. Das Schicksal der Vertriebenen erhalte "einen festen Ort im kollektiven Gedächtnis unseres Vaterlandes". Steinbach geht davon aus, dass sie auch in den Gremien des Zentrums mitarbeiten wird. Für die Grünen-Fraktion im Bundestag ist dieser Punkt noch ungeklärt.
Die Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen des BdV bleibt laut Steinbach mit ihren Aktivitäten und Veranstaltungen unberührt, auch wenn jetzt kein eigenes Museum mehr nötig ist. "Wir werden das Thema Vertreibung in seiner ganzen Dimension intensiv weiter verfolgen und deutlich machen, dass es nicht nur die Opfer, sondern alle Deutschen angeht", kündigte Steinbach an. "Ein eigenes Museum benötigen wir dazu nicht mehr, denn das jetzt von der Bundesregierung geplante 'Sichtbare Zeichen' ist ja unser eigenes Kind."
Dauerausstellung in Berlin
Das als Bundesstiftung angelegte Projekt wird 29 Millionen Euro kosten und jährlich weitere 2,4 Millionen Euro für den laufenden Betrieb. Kern wird eine Dauerausstellung im "Deutschlandhaus" am Anhalter Bahnhof in Berlin sein. Außerdem sind Wechselausstellungen, Publikationen und Veranstaltungen geplant. So soll noch in diesem Jahr eine internationale Historikerkonferenz stattfinden. Einen Termin für die Eröffnung gibt es noch nicht.
In den Gremien des Dokumentationszentrums werden Vertreter der Bundesregierung, des Bundestages sowie der Vertriebenen und anderer Gruppen mitarbeiten. Die Bundesregierung erwartet im wissenschaftlichen Beirat auch die Mitarbeit ausländischer Experten besonders aus europäischen Nachbarländern wie Polen, Ungarn und Tschechien. Noch bis vor kurzem hatte sich Polen heftig gegen das Zentrum gewehrt, weil befürchtet wurde, die Deutschen wollten die Verantwortung für die Vertreibungen relativieren.
Erst nach dem Regierungswechsel in Polen hatte ein Treffen Neumanns mit dem polnischen Deutschland-Beauftragten Wladyslaw Bartoszewski Anfang Februar in Warschau den Durchbruch gebracht: Polen geht nun von einer deutschen Angelegenheit aus und nicht mehr von einem Affront. Die SPD-Bundestagsfraktion hob hervor, das Dokumentationszentrum werde bei den Nachbarn keinen "Verdacht des Revanchismus" hervorrufen.
Quelle: ntv.de