Löhne und Preise entscheiden über Leistungshöhe Von der Leyen regelt Hartz IV neu
20.09.2010, 20:20 Uhr
Mammutaufgabe: Von der Leyen muss die Hartz-IV-Sätze neu berechnen lassen.
(Foto: dapd)
Bundesarbeitsministerin von der Leyen stellt Hartz IV auf neue Füße. Künftig richtet sich die Höhe der Sozialleistungen nach der Entwicklung von Löhnen und Preisen, die Leistungen für Kinder werden ausgebaut. Zudem sollen Internet und Praxisgebühr extra bezahlt werden. Auf ihre umstrittene Chipkarte für Kinder will von der Leyen offenbar verzichten.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat die Neugestaltung der Hartz-IV-Regeln auf den Weg gebracht. Der Gesetzentwurf dazu wurde fertiggestellt und an die anderen Ressorts übermittelt, wie die Ministerin sagte. In dem Gesetzentwurf ist die künftige Höhe des Regelsatzes aber noch nicht festgelegt. Dies soll erst in der kommenden Woche geschehen - wenn die Daten des Statistischen Bundesamt über die Entwicklung der Lebenshaltungskosten vorliegen. Eine wichtige Neuerung ist, dass sich die Höhe von Hartz-IV-Zahlungen künftig auch an den Löhnen orientiert, nachdem bislang vor allem die Ausgaben von Geringverdienern entscheidend waren.
Damit würden die Bezüge der über 6,5 Millionen Hartz-IV-Empfänger künftig im Gleichklang mit Preisen und Löhnen steigen. Von der Leyen will eine Mix-Berechnung, die sich zu 70 Prozent am Preisniveau und zu 30 Prozent an der Lohnentwicklung orientiert.
Derzeit liegt der volle Regelsatz für einen Hartz-IV-Empfänger bei 359 Euro im Monat. Die Haushaltspolitiker der Koalition befürchten deshalb mit der Neuregelung eine Kostenexplosion. Der FDP-Haushaltspolitiker Otto Fricke mahnte bereits zur Einhaltung der Schuldenbremse. Notfalls müsse von der Leyen an anderer Stelle in ihrem 131,8 Milliarden-Euro-Haushalt Einsparungen vornehmen. Am Sonntag will sich der Koalitionsausschuss mit der Neuregelung befassen.
Zuverdienstgrenzen umstritten
Das Arbeitslosengeld II wird in den nächsten Jahren wohl stärker steigen als die Rente. Der demografische Faktor, der den Rentenanstieg verringert, entfällt dann. Anders als bei der Rente gibt die Regierung aber keine Garantie, dass das Arbeitslosengeld im Fall sinkender Löhne oder Preise nicht gekürzt wird. Im Ministerium wurde das damit begründet, dass dies verfassungsrechtlich nicht möglich sei. Sinkende Löhne und Preise seien aber extrem selten.

Einzelheiten noch offen: Ob von der Leyen mit Kanzlerin Merkel die Neuregelung schon festgelegt hat?
(Foto: dpa)
Von der Leyen sagte, man müsse das Verfassungsurteil auch als Chance für die betroffenen Kinder verstehen, die künftig eine bessere Bildungsförderung erhalten sollen. Dafür hat der Bund bereits 480 Millionen im Haushalt eingestellt. Das warme Mittagessen für diese Kinder in Kitas und Ganztagsschulen will die Minister mit zusätzlich 120 Millionen Euro pro Jahr unterstützen. Die auch in der Koalition noch strittigen Zuverdienstgrenzen will von der Leyen später regeln.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar eine transparentere Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze bis zum Jahresende verlangt und zugleich den Bund verpflichtet, dabei auch den speziellen Bedarf der 1,7 Millionen Kinder aus diesen Familien zu berücksichtigen. Dabei geht es auch um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie Mitgliedschaft in Sportvereinen oder Besuch von Musikkursen.
Praxisgebühr und Internet
Basis für die Berechnung der Lebenshaltungskosten der Erwachsenen ist ein fiktiver "Warenkorb" mit 240 Positionen im Rahmen einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) bei 60.000 Haushalten. Die Hartz-IV-Regelsätze sollen sich weiter am Einkommen des unteren Fünftels der Bevölkerung orientieren.
Stärker berücksichtigt werden sollen bei den neuen Regelsätzen unter anderem die Kosten für öffentlichen Nahverkehr. Hinzu kommen die 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal. Neu sind auch die Kosten für das Internet. Zum Thema "Sanktionen" gibt es im Gesetzentwurf eine Klarstellung. Sie sollen bei Regelverstößen der Hartz-IV-Empfänger nur noch dann verhängt werden können, wenn sie nicht länger als drei Monate zurückliegen.
Chipkarte verzichtbar
Bei der von den Verfassungsrichtern verlangten Einbeziehung der Bildungskosten für Kinder aus Hartz-IV-Familien besteht von der Leyen nicht auf die von ihr favorisierte Bildungschipkarte. Gleichwohl will sie weiterhin bei Ländern und Kommunen dafür werben. Die Abrechnung der Bildungshilfen kann aber auch mit Hilfe von Formularen oder Gutscheinen über die Jobcenter erfolgen. Es bleibe bei dem Grundsatz, dass die Hilfen fast ausschließlich als Sachleistung" bereitgestellt werden - also nicht als reine Geldzahlung.
Über die Kosten für Nachhilfe will von der Leyen noch mit den Kultusministern der Länder sprechen. Bar ausbezahlt werden soll hingegen weiter die Hilfe für Hefte und Bücher. Dieses sogenannte Schulstarterpaket von 100 Euro pro Jahr soll aber nach den bisherigen Erfahrungen gesplittet werden, und zwar 70 Euro im ersten Schulhalbjahr, 30 Euro im zweiten Halbjahr. Bei der Neuregelung will von der Leyen auch die Kosten für Schulausflüge berücksichtigen.
Aus der CSU, aber auch aus Reihen der SPD gibt es Widerstand gegen eine Chipkarte. Zur Verabschiedung des Gesetzes ist von der Leyen auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen. Da die schwarz-gelbe Koalition in der Länderkammer keine eigene Mehrheit hat, benötigt sie dafür auch die SPD. Sollte eine Einigung bis Jahresende nicht gelingen, träten die im Entwurf geplanten Regelsätze dennoch zum Jahresanfang in Kraft.
Kritik aus der Opposition
Die FDP forderte Verbesserungen beim Zusatzverdienst für ALG-II-Empfänger. FDP-Generalsekretär Christian Lindner erklärte in Berlin, bei der anstehenden Hartz-IV-Novelle dürfe es nicht nur um eine Neuberechnung der Regelsätze gehen. Die Hinzuverdienstgrenzen sollten insbesondere oberhalb von 400 Euro so verändert werden, "dass es eine Leiter in den ersten Arbeitsmarkt gibt". Dazu sagte von der Leyen, neue Hinzuverdienstmöglichkeiten seien im Augenblick nicht im Gesetzentwurf enthalten. Generell sei es wichtig, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles warf von der Leyen "monatelange Tatenlosigkeit" bei der Umsetzung des Verfassungsurteils vor. Auch jetzt sei noch vieles unklar. Grünen-Chef Cem Özdemir forderte die Anhebung des Hartz-IV-Satzes auf 420 Euro. Dies sei das existenzsichernde Minimum, das nicht unterschritten werden dürfe. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach von einem Armutszeugnis. "Offenbar will die Bundesregierung das Regelsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts möglichst "billig" umsetzen." Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte die geplante Einbeziehung der Nettolohnentwicklung als sachfremd und verfassungswidrig.
Quelle: ntv.de, tis/dpa/AFP/rts