Russen noch in Georgien Warten auf den Rückzug
18.08.2008, 19:24 UhrNach der Rückzugsankündigung der russischen Truppen haben die gegnerischen Parteien widersprüchliche Angaben zur Lage in Georgien gemacht. Während Moskau mitteilte, der Abzug habe begonnen, erklärte Tiflis, die Situation sei unverändert. Nach Angaben der georgischen Regierung durchbrachen russische Panzer einen Kontrollpunkt der georgischen Polizei nahe der Hauptstadt Tiflis. Laut Informationen der USA stationierte die russische Armee Kurzstreckenraketen auf besetztem georgischem Territorium. Vor dem NATO-Außenministerrat am Dienstag forderte Russland "ausgewogene" Entscheidungen, andernfalls drohe eine Verschlechterung der Beziehungen.
Die Bewegung der Truppen beschränke sich zunächst auf den Rückzug aus dem georgischen Kerngebiet in das abtrünnige Südossetien, sagte Vize-Generalstabschef Anatoli Nogowizyn in Moskau. Auch die Kriegsmarine bleibe "wegen der instabilen Lage" vor der georgischen Schwarzmeerküste. Über die Zahl der im Konfliktgebiet im Südkaukasus stationierten russischen Soldaten machte der General keine Angaben. Aus Georgien kam zunächst keine Bestätigung für den Rückzug.
Auch die NATO reagierte zurückhaltend auf die russische Mitteilung über einen Abzug der Truppen. "Wir können das nicht bestätigen, weil uns keine eigenen Informationen vorliegen", sagte NATO-Sprecherin Carmen Romero. "Aber wir hoffen, dass die Informationen zutreffen." Die NATO will zudem Experten nach Georgien zu entsenden. Diese sollten bei einer Bestandsaufnahme der Schäden helfen, die das russische Militär in Georgien angerichtet habe. Über die künftige Arbeit des NATO-Russland-Rates müsse noch diskutiert werden. Russland zog nach einer Woche des Wartens den Antrag auf eine Sondersitzung des Rates zurück. Das Treffen sei sinnlos geworden, sagte Moskaus Vertreter bei der NATO, Dmitri Rogosin: "Das ist, als würden Sie eine Woche auf den Notarzt warten."
USA: Keine Anzeichen
Ein Vertreter der US-Regierung in Brüssel sagte allerdings, bis zum Nachmittag lägen noch keine Anzeichen für einen russischen Abzug vor. Das betonte auch die georgische Regierung. Vize-Außenminister Giga Bokeria sagte, es gebe vielmehr Hinweise, dass Russland seine Präsenz im georgischen Kernland noch ausweitete. Das Innenministerium in Tiflis beschuldigte die Russen zudem, in Senaki Munitionsvorräte der Armee und die Startbahn des Stützpunktes vernichtet zu haben. "Wenn sie das einen Rückzug nennen, verstehe ich die Bedeutung des Wortes nicht", sagte ein Sprecher des Innenministeriums.
Es gebe Belege dafür, dass die russische Armee Kurzstreckenraketen des Typs SS-21 in Südossetien stationierte habe, die wahrscheinlich auch Tiflis erreichen könnten, sagte ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums in Washington. Die russische Armee hatte zuvor einen entsprechenden Artikel der "New York Times" dementiert.
Saakaschwili verhandlungsbereit
Derweil rief Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili zu Verhandlungen mit Moskau über einen Ausweg aus dem Konflikt um Südossetien auf. "Lasst uns die Probleme mit zivilisierten Methoden lösen", sagte er in einer Fernsehansprache. Es müsse darüber nachgedacht werden, wie eine "definitive Entfremdung" beider Länder verhindert werden könne. Als Vorbedingung für Gespräche müssten sich die russischen Truppen allerdings unverzüglich zurückziehen.
Der russische Präsident Dmitri Medwedew reiste inzwischen erstmals seit Beginn des Konflikts in die Region. In der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Nordossetien, Wladikawkas, zeichnete der Kremlchef Soldaten aus, die am Krieg gegen Georgien beteiligt waren.
Russland verteidigt Einmarsch
Medwedew hatte zuvor in der Stadt Kursk unterstrichen, dass Russland trotz internationaler Kritik an seiner Militäroffensive gegen Georgien bei einem ähnlichen Fall wieder genauso handeln würde. "Wer denkt, er könne ungestraft russische Bürger töten (...), wird eine vernichtende Antwort bekommen", sagte der Präsident. Russland hatte seinen Einmarsch am 8. August damit begründet, dass Bürger mit russischen Pässen in Südossetien von georgischen Truppen angegriffen wurden. "Diese georgische Aggression ist beispiellos in der Geschichte", kritisierte Medwedew.
Das russische Außenministerium kündigte zudem an, dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Belege für angebliche georgische Kriegsverbrechen in Südossetien vorzulegen. Russlands Präsident Medwedew sagte russischen Nachrichtenagenturen zufolge, das Vorgehen Georgiens in Südossetien dürfe "nicht unbestraft bleiben". Im Konflikt um Südossetien werfen sich Georgien und Russland gegenseitig Kriegsverbrechen vor.
Ausnahmezustand verhängt
Der international nicht anerkannte Präsident von Südossetien, Eduard Kokojty, verhängte unterdessen einen einmonatigen Ausnahmezustand und entließ überraschend die Regierung. Die Minister der von Russland protegierten Region hätten Hilfsgüter nicht schnell genug an die Bevölkerung verteilt, hieß es zur Begründung. Weite Teile Südossetiens sind durch den georgischen Angriff vom 8. August sowie den russischen Gegenschlag zerstört. Zehntausende Menschen waren in der Vorwoche aus Südossetien nach Russland geflohen.
Der von allen Konfliktparteien unterzeichnete Sechs-Punkte-Plan schreibt vor, dass die russischen Streitkräfte sich auf die Linien vor Beginn der Feindseligkeiten zurückziehen. Das würde für die große Mehrheit der geschätzt russischen 10.000 Soldaten im Konfliktgebiet einen Rückzug hinter die eigene Staatsgrenze bedeuten, nicht nur nach Südossetien.
"Friedenstruppen" dürfen bleiben
Punkt fünf des mit Hilfe Frankreichs ausgearbeiteten Friedensplans gesteht Russland aber zu, mit seinen Friedenstruppen vorläufig "zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen" zu ergreifen. Russland hat bereits angekündigt, sein Kontingent an Friedenstruppen in Südossetien von zuletzt etwa 600 Mann verstärken zu wollen. Die Friedenstruppen stehen seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1994 mit einem Mandat der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) an der innergeorgischen Grenzlinie zum abtrünnigen Südossetien.
Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti meldete, ein erster Militärkonvoi sei von der südossetischen Hauptstadt Zchinwali ins russische Nordossetien aufgebrochen. Ein solcher Abzug der Truppen aus Südossetien wurde von Nogowizyn auf der Pressekonferenz in Moskau nicht erwähnt. Der Vize-Generalstabschef wollte auch keine Stellung dazu nehmen, wann der letzte russische Soldat Georgien verlassen werde. "Ich kann sagen, wann das neue Jahr beginnt. Aber das genaue Datum für den Abzug unserer Truppen aus dem Konfliktgebiet kann ich noch nicht sagen", unterstrich er.
Laut einer aktuellen Umfrage befürworten 37 Prozent der russischen Bevölkerung die Linie von Medwedew im Südkaukasus-Konflikt. Das teilte das staatsnahe Umfrageinstitut WZIOM mit. 23 Prozent der Befragten sagten, der Kremlchef sei "nicht hart" genug. Sieben Prozent bezeichneten die Linie des Präsidenten wiederum als zu hart.
Ölexport unterbrochen
Der Ölexport aus Aserbaidschan ist wegen des Konflikts in Georgien vollständig unterbrochen. Bereits vergangenen Dienstag seien zwei Pipelines durch Georgien geschlossen worden, nun könne auch auf der Zugstrecke kein Erdöl mehr transportiert werden, sagte eine Sprecherin des britischen Energiekonzerns BP in London. Grund sei eine zerstörte Eisenbahnbrücke in Georgien.
Schweden stoppte aus Protest gegen das russische Vorgehen seine militärische Kooperation mit Moskau. Regierungschef Fredrik Reinfeldt erklärte, gemeinsame Manöver und gegenseitige Flottenbesuche würden abgesagt. Schweden appelliere an Russland, "alle Aktivitäten zur Destabilisierung Georgiens etwa durch Zerstörung der Infrastruktur oder die Blockierung wichtiger Verkehrsverbindungen einzustellen". Außenminister Carl Bildt meinte, er sehe keine Anzeichen für den von Russland angekündigten Truppenrückzug.
Sarkozy droht mit Konsequenzen
Frankreich will einen EU-Sondergipfel einberufen, falls Russland seine Truppen aus Georgien nicht umgehend abzieht. Der Rückzug sei im russisch-georgischen Waffenstillstandsabkommen vereinbart und Russland müsse diesen Punkt erfüllen, schreibt Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy in einem Beitrag für die französische Zeitung "Le Figaro". Frankreich hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne.
"Wenn dieser Punkt des Abkommens nicht umgehend und komplett umgesetzt wird, werde ich einen EU-Gipfel einberufen, um zu entscheiden, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind", so Sarkozy. Am Sonntag hatte Sarkozy Medwedew bereits telefonisch mitgeteilt, es werde "ernsthafte Konsequenzen" für die Beziehungen Russlands zur EU haben, falls sich Russland nicht wie vereinbart zurückziehe.
Quelle: ntv.de