Mehr kommen, mehr dürfen bleiben Warum die Zahl der Geflüchteten hoch ist - und bleibt


Im ganzen Land entstehen Flüchtlingsunterkünftige in Modulbauten und Container-Dörfern, um alle Menschen unterzubringen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bund und Länder verhaken sich über die Frage der Flüchtlingskosten. Ein Blick auf die Daten zeigt, dass Berlin aber nicht den einen großen Hebel hat, um die Zahl der Geflüchteten zu senken. Es sind vor allem zwei Herkunftsländer, die die Migrationsstatistik auf ein hohes Niveau heben.
Das Wort Belastungsgrenze macht wieder die Runde. Die sehen nämlich viele erreicht bei der Unterbringung, Versorgung und Integration von nach Deutschland geflüchteten Menschen: im Bundestag vor allem CDU und CSU, die AfD sowieso, aber auch überparteiliche Institutionen wie der Deutsche Landkreistag oder der Deutsche Städtetag warnten vor ihrer eigenen Überforderung. Rufe nach mehr Geld für Länder und Kommunen lehnt der Bund ab und will ihnen stattdessen bei der Zahl der Geflüchteten entgegenkommen, also den Zugang nach Deutschland begrenzen und Menschen ohne Aussicht auf einen Aufenthaltstitel schneller in ihre Herkunftsländer zurückführen.
Doch wie groß ist da der Hebel der Politik überhaupt? Bei genauerer Betrachtung: überschaubar. Die meisten Menschen, die im vergangenen und laufenden Jahr nach Deutschland gekommen sind, erhalten auch einen Schutzstatus. Daran ist kaum zu rütteln. Das weiß auch die Union und fordert daher, Sozialleistungen für Geflüchtete herunterzufahren. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, beklagt im Gespräch mit ntv.de eine "Sogwirkung". Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, entschieden sich öfter für Deutschland als für andere Staaten, weil sie nirgendwo anders auf der Welt "vom ersten Tag an so viele Leistungen bekommen".
Deutschland leistet nicht alleine Kraftakt
Die Daten bestätigen Frei teilweise. In absoluten Zahlen wurden in Deutschland 2022 laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF) 217.774 Erstanträge auf Asyl gestellt. Damit liegt Deutschland in absoluten Zahlen weit vorne in Europa. Gemessen an der Einwohnerzahl des aufnehmenden Landes bewegt sich aber beispielsweise Spanien auf ähnlich hohem Niveau. Österreich hat mit gerade einmal 9,1 Millionen Einwohnern sogar 106.000 Asylanträge verzeichnet, also im Vergleich zu Deutschland ein Vielfaches pro Einwohner.
Auch bei der hier nicht eingerechneten Zahl der Ukraine-Flüchtlinge liegt Deutschland mit 1,044 Millionen Menschen nicht auf dem ersten Platz: Polen hat 1,584 Millionen Ukrainer aufgenommen und Tschechien mit seinen 10 Millionen Einwohnern gewährt immerhin 504.353 Menschen aus dem Kriegsgebiet Zuflucht. Gemessen an den Einwohnerzahlen haben auch die baltischen Länder und die Slowakei ähnlich viele Menschen wie Deutschland aufgenommen.
Diese Beispiele zeigen ebenso wie die Zahl von 3,7 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei oder die etwa 3 Millionen Afghanen im Iran, dass Geflüchtete aus verschiedenen Gründen oft in Nachbarländern verbleiben und nicht dorthin gehen, wo ihnen am meisten Unterstützung winkt. Klammert man den Ukraine-Krieg aus, gilt aber auch: viele EU-Staaten wollen die Zuwanderung möglichst klein halten, bieten Geflüchteten wenig Unterstützung an und haben daher tatsächlich sehr wenige Migranten aufgenommen.
Starker Andrang auch im Jahr 2023
Dagegen sind die Zahlen der Ankommenden in Deutschland fraglos hoch: Im Gesamtjahr 2022 lag die Zahl der Asyl-Erstanträge 46,9 Prozent über derjenigen des Vorjahres. Addiert man diese Zahl mit den Menschen aus der Ukraine, hat die Bundesrepublik 2022 mehr Menschen aufgenommen als im Krisenjahr 2015. Und der Trend für das laufende Jahr geht weiter hoch: Zwar kommen kaum noch zusätzlich Menschen aus der Ukraine nach Deutschland, doch rund 85.000 Erstanträge aus anderen Nicht-EU-Staaten im ersten Quartal 2023 sind doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum.
Die Ukrainerinnen und Ukraine müssen keinen Schutzstatus beantragen, sondern bekommen den vollen Zugang zum Arbeitsmarkt und Sozialsystem. Nach einer EU-Regelung steht ihnen das volle Aufenthaltsrecht bis zum Frühjahr kommenden Jahres zu. Wie es danach weitergeht, wird ganz wesentlich von der Entwicklung des Krieges in der Ukraine abhängen. Anders als bei anderen Flüchtlingsgruppen ist der Anteil von Kindern besonders hoch: Rund 200.000 Kinder aus der Ukraine wurden Ende 2022 in Deutschland beschult. Die Belastungen für das ohnehin ausgedünnte Bildungssystem sind daher Teil des laufenden Konflikts zwischen Bund und Ländern.
Mehr Syrer und Afghanen, mehr Aufenthaltstitel
Bei den anderen Herkunftsländern dominieren wie seit Jahren schon Syrien und Afghanistan. Die Menschen, die 2022 knapp die Hälfte aller neu nach Deutschland gekommenen Geflüchteten ausmachten, durften hier in fast allen Fällen auch bleiben. Von 70.976 syrischen Erstanträgen mündeten 2022 knapp über 90 Prozent in einen Schutzstatus. Bei den 36.358 Anträgen von Afghanen endete das Verfahren in 83,5 Prozent aller Fälle mit einem Schutzstatus.
Allerdings ist Schutzstatus nicht gleich Schutzstatus: Als asylberechtigt, weil sie individuell politisch verfolgt werden, wurden 2022 nur 0,8 Prozent aller Antragsteller eingestuft. Syrern mit Bleiberecht wurde zu rund 70 Prozent sogenannter subsidiärer Schutz gewährt. Das heißt, in ihrem Herkunftsland droht ihnen zum Beispiel die Todesstrafe, unmenschliche Behandlung oder Gefahr durch einen gewalttätigen Konflikt. Weitere rund 20 Prozent wurden als Flüchtlinge anerkannt, weil ihnen in Syrien Verfolgung wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe droht.
Bei den Menschen aus Afghanistan verhält es sich anders: Zwar wurde jeder fünfte Antragsteller als Flüchtling anerkannt. Die meisten Afghanen mit Schutzstatus, rund 60 Prozent, dürfen aber lediglich nicht abgeschoben werden, weil ihr Herkunftsland generell als unsicher eingestuft wird. 2019, vor der endgültigen Machtübernahme der Taliban, lag die Schutzquote für Afghanen noch bei 38 Prozent. 2022 lag sie bei 83,5 Prozent - und das bei vier Mal so vielen Anträgen wie drei Jahre zuvor. Auch die Zahl der syrischen Erstanträge war 2022 fast doppelt so hoch wie im vor-Corona-Jahr 2019.
Was bringen Asylverfahren an EU-Außengrenzen?
Während Deutschland als Zufluchtsort für Ukrainerinnen und Ukrainer von kaum jemand in Frage gestellt wird, gäbe es für die Bundesregierung bei Menschen aus Syrien und Afghanistan durchaus Möglichkeiten: Theoretisch wären die Länder für die Asylanträge zuständig, in denen die Flüchtlinge erstmals europäischen Bode betreten. Das sind zumeist Mittelmeerländer, allen voran Griechenland. Doch die Menschen wollen nicht in Griechenland bleiben, stellen dort möglichst keine Anträge und werden von den Behörden in stiller Zustimmung in Richtung Deutschland durchgewunken.
Die Mittelmeerstaaten pochen auf eine fairere Lastenteilung in der EU und fordern seit Jahren verbindliche Umverteilungsquoten, an denen sich alle Mitgliedstaaten beteiligen. Eine solche Vereinbarung strebt auch die Bundesregierung an in Verbindung mit Asyl-Vorprüfungsverfahren, die noch an den EU-Außengrenzen vorgenommen werden sollen. Unklar ist, was das etwa für Afghanen bedeuten würde: Ihre Aussicht auf einen Flüchtlingsstatus ist gering - einmal eingereist, dürften sie nach der momentanen Regelung aber auch nicht abgeschoben werden.
Ein anderes Beispiel ist die Türkei: Seit Jahren steigt die Zahl türkischer Geflüchteter, mit 10.582 Erstanträgen bildeten sie das drittgrößte Herkunftsland im abgelaufenen Quartal. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 23.938, die Schutzquote für Antragssteller aus der Türkei lag zugleich nur bei 27,8 Prozent. Hier mussten die Menschen meist individuell nachweisen, dass sie unter der Regierung Erdogans persönlich bedroht sind. Ähnlich sind die Schutzquoten für Menschen aus dem Iran, wo das Mullah-Regime Kritiker mit großer Härte verfolgt. Würden Menschen mit einer 25-Prozent-Chance in Zukunft im Vorhinein an der EU-Außengrenze aussortiert? Eher nicht, also kämen weiter erst einmal alle in die EU, um hier ein ordentliches Asylverfahren zu durchlaufen.
Georgier von Asyl-Chance ausschließen
Bei anderen wichtigen Herkunftsländern sind die Schutzquoten nicht geringer. Im Gegenteil: Seit Jahren rangieren in den Top Zehn des BamF die Bürgerkriegsländer Somalia und Eritrea. Fast alle Antragsteller von dort erhalten einen Schutzstatus. Einen Ausreißer bildet - ebenfalls seit Jahren - Georgien: Seit die Menschen aus dem Kaukasus-Staat seit 2017 visafrei nach Europa einreisen dürfen, bleiben monatlich Tausende von ihnen in Europa und stellen Asylanträge. Allein in Deutschland waren es im vergangenen Jahr 6867. Die Schutzquote für Georgier liegt seit Jahren stabil unter einem Prozent.
Die Bundesregierung will nun Georgien und Moldau zu sicheren Herkunftsstaaten erklären. Menschen aus diesen Ländern haben in der Regel keine Chance auf einen Bleibestatus. Damit würden die Antragsverfahren zumindest etwas entlastet: 3,7 Prozent der Erstanträge 2022 wurden von Georgiern gestellt, rund 1 Prozent von Moldauern. CDU-Politiker Frei fordert, zusätzlich Algerien, Marokko und Tunesien auf die Liste sicherer Staaten zu setzen. Doch auch diese Länder machen jeweils nur 1 Prozent und weniger aller Asyl-Erstanträge aus.
Was tun mit 250.000 Geduldeten?
Ein weiteren Ansatz, Ausländerbehörden und Kommunen zu entlasten, bietet die große Gruppe an Menschen, die lediglich geduldet werden. 304.308 Ausländer sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums ausreisepflichtig. Hiervon werden aber 248.145 aus verschiedensten Gründen geduldet. Darunter sind nicht sichere Herkunftsländer, nicht vorhandene Rücknahmebereitschaft der Herkunftsländer, fehlende Dokumente, Verantwortung für in Deutschland lebende Minderjährige und gesundheitliche Einschränkungen. Die Betroffenen müssen mehrfach im Jahr auf die Behörde, um ihre Duldung zu verlängern. Sie leben in ständiger Unsicherheit, derweil die Behörden knappe Kapazitäten auf die Betreuung der Fälle verwenden müssen.
Mit dem seit Jahresanfang geltenden Chancenaufenthaltsrecht sollen Geduldete, die sich seit mehr als fünf Jahren in Deutschland aufhalten, für ein ordentliches Bleiberecht qualifizieren können, indem sie eine Arbeit oder Ausbildung vorweisen. Geduldete können bislang kaum arbeiten oder Integrationsangebote wahrnehmen. Das soll sich nun zumindest für einen Teil von ihnen ändern. Für Menschen ohne Duldungsstatus dagegen will die Bundesregierung die Abschiebung vereinfachen, etwa indem Polizeibefugnisse erweitert werden. Dass die Zahl der Abschiebungen derzeit auf dem Niveau der Pandemie-Jahre stagniert, erklärt das BamF unter anderem mit der gegenwärtigen Überlastung der für die Umsetzung zuständigen Behörden.
Quelle: ntv.de