Politik

Freizügigkeit ab 1. Mai Wie viele Arbeitnehmer werden kommen?

Am deutsch-polnischen Grenzübergang in Frankfurt (Oder).

Am deutsch-polnischen Grenzübergang in Frankfurt (Oder).

(Foto: dpa)

Am 1. Mai fällt die letzte Schranke zum deutschen Arbeitsmarkt: Sieben Jahre nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union dürfen die Bürger aus acht Staaten in Ost- und Mitteleuropa dann ohne jede Einschränkung zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Während Gewerkschaften mit Teilen der SPD vor Lohndumping durch Billigarbeitskräfte warnen, sehen Forscher und Wirtschaft vor allem Möglichkeiten, Fachkräfte anzuwerben.

Was ist Freizügigkeit?

Mit der EU-Osterweiterung um zehn Staaten am 1. Mai 2004 galten von Beginn an nur zwei der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes: freier Waren- und freier Kapitalverkehr. Die 15 alten Mitgliedstaaten ließen sich zusichern, dass sie die Personenfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit bis zu sieben Jahre einschränken dürfen. Davon Gebrauch machten bis zuletzt nur Deutschland und Österreich. Die volle Freizügigkeit gibt nun jedem EU-Bürger aus den damaligen Beitrittsländern das Recht, in anderen EU-Staaten eine Beschäftigung aufzunehmen.

Welche Staaten sind betroffen?

Am 30. April laufen die Übergangsbestimmungen aus, mit denen sich Deutschland gegen acht der zehn zum 1. Mai 2004 beigetretenen EU-Länder abgeschottet hatte: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Slowakei. Für die Beitrittsländer Zypern und Malta gab es keine Auflagen. Für die erst am 1. Januar 2007 beigetretenen Rumänen und Bulgaren bleibt die Freizügigkeit eingeschränkt - vorerst noch bis Ende 2011, voraussichtlich aber bis Ende 2013, wenn die Bundesregierung die Frist von sieben Jahren voll ausschöpft.

Was ändert sich?

Arbeitnehmer dieser acht Beitrittsstaaten (EU-8) benötigen in Deutschland keine Arbeitsgenehmigung mehr. Auch Bewerber für Ausbildungsplätze können sich nun uneingeschränkt hier umsehen. So mancher grenznahe Handwerksbetrieb im Osten Deutschlands setzt seine Hoffnungen auf Lehrlinge aus den Nachbarländern. Für hoch qualifizierte Arbeitskräfte ändert sich nichts: Akademiker haben schon seit 2009 freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.

Wer wird kommen?

Arbeitsmarktexperten erwarten, dass eher jüngere und gut qualifizierte Arbeitsuchende nach Deutschland kommen. Allzu große Hoffnungen auf einen verstärkten Zuzug von Fachkräften und Hochqualifizierten dämpft allerdings die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA): Für Akademiker aus den EU-8 ist der Weg durch den Wegfall der Vorrangprüfung seit Januar 2009 ohnehin schon frei. Die vollständige Freizügigkeit werde daher keine besonderen Effekte bringen. Dennoch sehen die Arbeitgeber in der Öffnung des Arbeitsmarktes "die Chance, zumindest einen Teil der insbesondere durch den demografischen Wandel entstehenden Fachkräftelücke zu schließen".

Wie viele werden kommen?

Das weiß keiner. Auf gepackten Koffern sitzt in den acht EU-Staaten wohl niemand. Polens Arbeitsministerin Jolanta Fedak schätzt, dass sich etwa 100.000 bis 400.000 ihrer Landsleute über einen Zeitraum von drei Jahren aufmachen könnten, in Deutschland zu arbeiten. Das zur Bundesagentur für Arbeit (BA) gehörende Forschungsinstitut IAB rechnet mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 100.000 bis 140.000 Arbeitnehmern. Daran orientieren sich die übrigen geläufigen Schätzungen aus der Wirtschaft, von Gewerkschaften und der Politik.

Wie kommt das IAB auf solche Zahlen?

Das IAB greift dazu auf die Vergangenheit zurück. Im Durchschnitt 2004 bis 2009 sei die ausländische Bevölkerung aus den EU-8 in den EU-15 jedes Jahr um 250.000 Personen gewachsen, im Zuge der Finanzkrise aber geringer geworden. Das Interesse an Deutschland und Österreich sei deutlich gesunken: Ihr Anteil an der Zuwanderung sank von 60 Prozent auf noch 30 Prozent - über 60 Prozent der Arbeitsmigranten gingen nach Großbritannien und Irland, die ihre Arbeitsmärkte von Beginn an öffneten.

Mit Einzug der vollen Freizügigkeit zum 1. Mai auch in Deutschland gehen Mitarbeiter des IAB in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung davon aus, dass die Zuwanderung aus den den EU-8 in die EU-15 insgesamt wieder auf 250.000 Personen steigt und sich dann schrittweise abschwächt. Die Autoren der Studie, Timo Baas und Herbert Brücker, kommen so unter der Annahme, dass auf Deutschland wie im Jahr 2000 ein Anteil von etwa 60 Prozent an der Zuwanderung entfiele, auf zunächst 134.000 Arbeitsmigranten pro Jahr. Bei einem deutschen Anteil von 45 Prozent seien es anfangs 101.000. Niemand weiß, ob dieses Rechenmodell die Entwicklung zutreffend vorhersagt.

Wird Zeitarbeit zum Einfallstor für Lohndumping?

Staatsangehörige der EU-8 können nun von Zeitarbeitsfirmen nach Deutschland verliehen werden. Auch Einschränkungen bei der Entsendung von Arbeitnehmern im Baugewerbe und bei der Gebäudereinigung fallen weg. In der Baubranche werden damit Werkvertragsabkommen hinfällig, die etwa Einschränkungen für regionale Bezirke mit hoher Arbeitslosigkeit vorsahen.

Gewerkschaften befürchten, die aus den EU-8 entsandten Beschäftigten könnten deutlich schlechter bezahlt werden als vergleichbare inländische Arbeitnehmer. Mindestlöhne in der Zeitarbeit, am Bau, in der Gebäudereinigung und in der Pflegebranche sollen dies verhindern. Die IG BAU bleibt skeptisch: "Es besteht die Gefahr, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgenutzt wird, um mit billigen Arbeitskräften die Löhne zu drücken."

Wird es leichter, Erntehelfer und Pflegekräfte zu bekommen?

Für die Erntehelfer beim Spargelstechen und Obstpflücken sowie Saisonbeschäftigte in der Gastronomie sind bereits am 1. Januar dieses Jahres alle Schranken gefallen. Bisher mussten die Arbeitsagenturen jeder einzelnen Beschäftigung zustimmen: Im vorigen Jahr gab es rund 185.000 Saisonarbeiter aus den EU-8, davon 174.000 aus Polen. Hinzu kamen 97.500 Rumänen und 3500 Bulgaren, für die das Zulassungsverfahren weiterhin gilt.

Die Pflegebranche rechnet dagegen durch die Freizügigkeit mit keiner Erleichterung. Der Arbeitgeberverband Pflege hält anderes für viel dringlicher: "Wir fordern, dass die in anderen EU-Staaten erworbenen Berufsabschlüsse schnellstmöglich in Deutschland anerkannt werden." Akut würden 20.000 Pflegefachkräfte benötigt. Für Hilfskräfte gilt ein Mindestlohn.

Lässt die Freizügigkeit die Arbeitslosigkeit steigen?

Modellberechnungen kommen zu dem Schluss, dass durch die Zuwanderung von EU-8-Bürgern das deutsche Bruttoinlandsprodukt um 1,16 Prozent steigen könnte - der Wohlstand wächst. Da mehr Menschen ihre Arbeitskraft anbieten, rechnen die Autoren der IAB-Studie theoretisch mit einer vorübergehenden Erhöhung der Arbeitslosenquote um 0,2 Prozentpunkte und einem Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Lohnniveaus - im Vergleich zum Szenario ohne Zuwanderung. "Aufgrund der steigenden Kapitaleinkommen ergibt sich ein Nettogewinn für die einheimische Bevölkerung in Deutschland", schreiben Baas und Brücker.

Das bedeutet laut IAB keineswegs einen Rückgang der Löhne der inländischen Beschäftigten insgesamt: Ein Großteil der Anpassungslast werde von den Migranten selbst getragen, da sie eine niedrigere Entlohnung als vergleichbare Inländer erhielten. Die Löhne der Migranten seien etwa 20 Prozent geringer. Dennoch könne es im deutschen Arbeitsmarkt auch Verlierer geben, vor allem jene, deren Tätigkeiten leicht zu ersetzen seien.

Wie viele Arbeitsgenehmigungen gab es bisher?

Im Jahr 2010 hat die Bundesagentur für Arbeit 47.000 Arbeitnehmern aus den EU-8 eine Arbeitsgenehmigung erteilt, darunter 32.000 für eine erstmalige Beschäftigung (von denen 4900 neu eingereist waren). Davon kamen über die Hälfte (18.300) aus Polen. Aus Bulgarien und Rumänien kamen rund 20.100 erstmalig Beschäftigte. Nicht mitgezählt sind dabei Saisonkräfte, Haushaltshilfen und Werkvertragsarbeitnehmer.

Kann es Zuwanderung ins Sozialsystem geben?

Das ist eher unwahrscheinlich. Das Recht, sich in Deutschland zur Arbeitsuche aufzuhalten, besteht zwar für mindestens drei Monate. Für die Einreise reicht ein Personalausweis. Anspruch auf Arbeitslosengeld I oder Hartz IV haben die Arbeitsuchenden in der Regel aber nicht. Für das Arbeitslosengeld I müssen sie mindestens zwölf Monate in Deutschland sozialabgabenpflichtig beschäftigt gewesen sein.

Quelle: ntv.de, Holger Hansen, rts

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen