Politik

Klima-Kleber und Betonmischer Worüber beim Berliner Fahrradunfall kaum geredet wird

Das Geisterrad an der Bundesallee gedenkt der verstorbenen 44-jährigen Sandra Umann.

Das Geisterrad an der Bundesallee gedenkt der verstorbenen 44-jährigen Sandra Umann.

(Foto: IMAGO/IPON)

Der Tod einer Fahrradfahrerin in Berlin bewegt seit Tagen Politik und Bürger. Dabei konzentriert sich die Debatte vor allem um die fragwürdigen Methoden der Klima-Aktivisten. Doch die Gründe für den Unfall sind komplexer – und viele Aspekte werden außen vor gelassen.

Der Fahrradunfall einer Berlinerin sorgt in ganz Deutschland für hitzige Debatten um die Klima-Aktivisten der "Letzten Generation". Sind die Klima-Kleber Schuld am Tod der 44-Jährigen? Ist es okay, im Namen des Klimaschutzes Straßen zu blockieren und Gemälde mit Brei zu bewerfen? Darf der Kampf für eine gute Sache Menschenleben gefährden?

Kurzer Rückblick: Am 31. Oktober wurde die 44 Jahre alte Sandra Umann auf der Berliner Bundesallee von einem Betonmischer überrollt, drei Tage später erlag sie ihren schweren Verletzungen. Die Klima-Gruppierung "Letzte Generation" hatte an dem Tag die Straße blockiert und damit einen Stau ausgelöst. Ein Spezialfahrzeug, das den Betonmischer hätte anheben können, kam dadurch erst später zum Einsatzort, wie ein Gutachten der Feuerwehr belegt.

Für viele stellt sich die Frage, ob die Frau hätte gerettet werden können, wenn die Klima-Aktivisten nicht die Straße blockiert hätten. Und selbst wenn nicht: Zeigt der Fall nicht, dass man mit einem solchen Eingriff in den Straßenverkehr Menschenleben in Gefahr bringt?

Darüber streiten Befürworter und Gegner der Klima-Kleber, genauso wie Politiker und Rettungskräfte. Selbst FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann und Kanzler Olaf Scholz haben sich zu Wort gemeldet. Dabei werden andere Aspekte des Unfalls oftmals außen vor gelassen oder unzureichend diskutiert. Der Tragödie wird das nicht gerecht.

Ermittlungen zu Unfall laufen noch

Der Unfallvorgang selbst ist bislang noch unklar. Abgesehen davon, dass der 64-jährige Fahrer des Betonmischers nach dem Unfall von einem Mann mit einem Messer attackiert und selbst verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bekommt seine Rolle bei dem Unfall nur wenig Beachtung. Dabei sind Fahrradunfälle mit LKWs alles andere als selten: Erst im vergangenen Jahr starb die Berlinerin Cindy Bohnwagner auf dem Weg zur Arbeit, als sie auf ihrem Fahrrad ebenfalls von einem Betonmischer überrollt wurde.

Die beiden Frauen sind nicht die einzigen: Im Berliner Straßenverkehr kommen regelmäßig Radfahrende ums Leben. Im vergangenen Jahr starben laut ADFC Berlin zehn Radfahrerinnen und Radfahrer im Straßenverkehr. Sechs davon wurden beim Zusammenprall mit einem LKW getötet. Sandra Umanns Unfall auf der Bundesallee war in diesem Jahr der achte von bereits neun tödlichen Fahrradunfällen in diesem Jahr.

In mehreren Fällen wurden die Opfer beim Geradeausfahren von einem abbiegenden LKW erfasst. Nicht ohne Grund fordert der ADFC seit 2011 verpflichtend Abbiegeassistenten für alle LKWs. Seit Juli dieses Jahres werden europaweit neue LKW-Typen nur noch mit elektronischen Abbiegeassistenten zum Schutz von Radfahrenden zugelassen. Aber bereits zugelassene Fahrzeuge müssen nicht nachgerüstet werden.

Die Regelung hilft Radfahrern daher bislang nur wenig. Es sei schon schlimm genug, dass die Vorschrift so spät komme, sagt ADFC-Bundesgeschäftsführerin Ann-Kathrin Schneider. "Viel schlimmer ist, dass die neue Regelung nur für neue LKW-Typen gilt. Das bedeutet, dass noch jahrelang hunderttausende alter LKW ohne Abbiegeassistenten dort unterwegs sein werden, wo Kinder mit dem Rad zur Schule, Berufstätige zur Arbeit und Ältere zum Einkaufen fahren."

Berlin will Straßen seit Jahren sicherer machen

Wie es zu dem Unfall auf der Berliner Bundesallee gekommen ist und ob der Betonmischer einen Abbiegeassistenten hatte oder nicht, das ist nach wie vor Teil der Ermittlungen, wie die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin mitteilt. "Aus ermittlungstaktischen Gründen können wir hierzu keine Auskünfte geben", sagte deren Sprecher, Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner, ntv.de.

Bereits bekannt ist hingegen, dass an der Stelle, an der die Radfahrerin verunglückte, sie auf der Straße fuhr und nicht auf dem benutzungspflichtigen Radweg. Wieso, ist unklar. Ihre Schwester Anja Umann sagte, auch sie stelle sich diese Frage: "Warum hast du das getan? Warum bist du nicht auf dem Radweg gewesen?", sagte sie im Interview mit dem "Spiegel".

Gleichzeitig stellt sie fest, dass es kurz vor der Kreuzung eine große Baustelle gebe, die Radfahrer dazu zwingt, auf die Straße auszuweichen. Danach sei es schwer, von der Straße wieder auf den Radweg zu kommen. "Auf der Bundesallee ist der Radweg nach der Kreuzung, auf der der Unfall passierte, sehr schlecht, das weiß ich", so Umann. Sie sei wie ihre Schwester viel mit dem Rennrad unterwegs. "Bevor sie die Holperpiste mit dem Rennrad fährt, wechselt sie lieber auf die Straße."

Seit Jahren will Berlin den Straßenverkehr für Fahrradfahrer sicherer machen. Doch viele Strecken und Kreuzungen werden für Fahrradfahrer noch immer zur Todesfalle. Im Berliner Stadtteil Friedrichshain kamen im Jahr 2021 an derselben Kreuzung insgesamt vier Menschen ums Leben. Der Verkehrsknoten besteht aus insgesamt 21 sich kreuzenden Autospuren und verfügt über "keine geschützte Infrastruktur für ungeschützte Verkehrsteilnehmende", kritisiert der Verein Changing Cities. "Radfahrende haben nur aufgemalte Streifen, die sie von den schnellen abbiegenden Autos separieren sollen, anstatt sie zu schützen, und das nicht mal überall." In Berlin ein altbekanntes Problem, ein Aufschrei blieb bislang aber aus.

"Tagtäglich stecken wir Rettungskräfte im Stau"

Ein Berliner Notfallsanitäter meldete sich zu der Debatte auf Twitter zu Wort. Dort greift er die Doppelmoral an, die er hinter der Kritiker an den Klima-Aktivisten sieht: "Tagtäglich stecken wir Rettungskräfte im Stau. Jeden einzelnen verdammten Einsatz", schreibt er in einem Tweet, der mehr als 11.000 Likes bekam. Die Gründe dafür seien mit weitem Abstand vor jeglichen Protesten: "Falschparker*innen, 'Zweite-Reihe-Parker*innen', Baustellen und fehlende Rettungsgassen".

Die Schuld bei den Klima-Aktivisten zu suchen sei "respektlos dem Unfallopfer gegenüber, heuchlerisch, verlogen und hetzerisch", wütet der Sanitäter, der anonym bleiben möchte. Wenn Radfahrerinnen und Radfahrer ernsthaft besser geschützt werden sollten, müsse man Maßnahmen ergreifen, wie "autofreie Innenstädte, Abbiegeassistenten, separate Fahrradspuren und eine Helmpflicht".

Die beiden Männer, die sich auf der Bundesallee auf die Straße gestellt haben, sind 59 und 63 Jahre alt. Wer also von "Klima-Kindern" spricht oder die "radikale Jugend" kritisiert, wie es nach dem Unfall vielfach getan wurde, zeichnet ein falsches Narrativ. Trotzdem: Mittlerweile kann als bewiesen gelten, dass das Spezialfahrzeug ohne Stau schneller hätte am Unfallort sein können - auch wenn es zunächst hieß, die Notärztin hätte sich gegen das Anheben des Betonmischers entschieden. Die Polizei hat deshalb ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden Mitglieder der "Letzten Generation" für die Behinderung des Straßenverkehrs eröffnet.

Anja Umann ist es egal, ob die Blockade der Aktivistinnen und Aktivisten einen Einfluss auf die Rettung ihrer Schwester gehabt hat oder nicht. "Es ändert ja nichts daran, dass dieses Fahrzeug durch die Blockade nicht die Möglichkeit hatte, früher vor Ort zu sein. Die Tatsache, dass es behindert wurde, besteht ja weiterhin", sagte sie dem "Spiegel". "Und es hätte ja ebenso gut sein können, dass dieses Fahrzeug das Leben meiner Schwester hätte retten können, wie zunächst anzunehmen war."

Losgelöst von der Frage, ob die Klima-Aktivisten der "Letzten Generation" eine Mitschuld am Tod der Radfahrerin tragen oder nicht, ist es gut, dass der Fall von Sandra Umann so viel Aufmerksamkeit bekommt. Das war bei den viel zu vielen anderen Unfällen mit getöteten Fahrradfahrern anders. Denn es muss mehr darüber gesprochen werden, wie solche Tragödien in Zukunft verhindert werden können.

Quelle: ntv.de

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