Dänen holen Fahne ein "Zunehmende globale Krise"
07.02.2006, 07:34 UhrDänemarks Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen hat die gewaltsamen Proteste von Moslems gegen die Mohammed-Karikaturen als eine weltweite, außer Kontrolle geratende Krise bezeichnet.
"Wir stehen vor einer zunehmenden globalen Krise, die das Potenzial hat, über die Kontrolle von Regierungen und anderen Autoritäten hinweg zu eskalieren", sagte er. Radikale, Extremisten und Fanatiker würden den moslemischen Zorn anfachen, um ihre eigenen Anliegen voranzutreiben. Er bekräftigte aber zugleich sein Interesse an einem Dialog mit Moslems.
Die Islamische Konferenz rief unterdessen gemeinsam mit den Vereinten Nationen und der EU die Muslime weltweit zu Besonnenheit auf. Angriffe gegen Leben und Besitz schadeten dem Ansehen eines friedlichen Islams, heißt es in einer Erklärung, die am Dienstagabend gemeinsam von dem Generalsekretär der 57 islamische Staaten umfassenden Organisation (OIC), Ekmeleddin Ihsanoglu, UN-Generalsekretär Kofi Annan und dem EU-Außenbeauftragten Javier Solana veröffentlicht wurde.
Die drei Organisationen riefen zum Dialog zwischen religiösen Gemeinschaften und Staatsführern und zu gegenseitigen Respekt auf. Solana, Ihsanoglu und Annan kritisierten zugleich die umstrittenen Zeichnungen als beleidigend. Solche sensiblen Themen müssten mit mehr Einfühlungsvermögen behandelt werden.
"Dannebrog" wird eingeholt
Die Situation vor allem für dänische Staatsbürger in islamischen Ländern wurde in den vergangenen Tagen zunehmend schwierig. Urlauber, Kaufleute, Soldaten und Entwicklungshelfer aus Dänemark verstecken seitdem ihre Flaggen. Der Reedereiverband in Kopenhagen forderte die dänischen Schiffe dazu auf, bei Fahrten in internationalen Gewässern sowie beim Anlaufen von Häfen in islamischen Ländern möglichst die dänische Flagge einzuholen.
Sprecher von dänischen Unternehmen, die in islamischen Ländern tätig sind, sagten Kopenhagener Zeitungen, einige bisher nicht als dänisch identifizierte Exportfirmen würden angesichts der dortigen Boykottwelle erhebliche Anstrengungen unternehmen, ihre nationale Zugehörigkeit zu verschleiern.
Verteidigungsminister Sren Gade bestätigte, dass alle derzeit im Ausland tätigen dänischen UN-Beobachter eine offizielle Aufforderung seines Hauses erhalten haben, den rotweißen "Dannebrog" von ihren Uniformen zu entfernen. Dasselbe gelte für Helfer aus seinem Land bei Erdbebenopfern in Pakistan. In islamischen Ländern lebende Dänen gaben im Fernsehen an, dass sie derzeit von sich aus durch Kleidung, Verschleierung und sprachliches Verhalten versuchen würden, ihre nationale Herkunft zu kaschieren.
Vier Tote in Afghanistan
Auch am Dienstag gingen die Proteste gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen weiter. In Afghanistan riefen die radikal-islamischen Taliban zum Heiligen Krieg gegen Dänen auf. Dort starben vier Demonstranten beim Ansturm auf ein norwegisches ISAF-Lager.
Die Soldaten setzten Tränengas und Gummigeschosse ein, um die Demonstranten zurückzudrängen. Jagdflugzeuge flogen im Tiefflug über das Gelände, um die Menge abzuschrecken. Norwegens Verteidigungsministerin Anne-Grete Strm-Erichsen sprach von einer "sehr ernsten" Lage. Dänemark stellt rund 160, Norwegen mehr als 500 Soldaten der ISAF. Die Bundeswehr hat über als 2.000 Soldaten am Hindukusch stationiert.
Proteste weltweit
Vor den Botschaften Dänemarks und Norwegens in Teheran kam es zu Protesten. Am Montag hatten hunderte Demonstranten die Botschaften Dänemarks und Österreichs angegriffen und erheblichen Schaden angerichtet. Die norwegische Botschaft wurde nun ebenfalls mit Steinen und Brandsätzen attackiert. Viele Fensterscheiben gingen zu Bruch, das Haupttor geriet in Brand. Die Polizei hinderte die rund 100 Demonstranten am Erstürmen der Botschaft und vertrieb sie schließlich.
In Indien wurden mindestens acht Menschen verletzt. Gewaltsame Ausschreitungen gab es zudem in Pakistan, Indonesien, auf den Philippinen, im Gazastreifen, im Niger und in Nigeria.
Iran bestellt Holocaust-Karikaturen
Als Reaktion auf die umstrittenen Zeichnungen plant die große iranische Zeitung "Hamschahri" nun einen "internationalen Karikaturen-Wettbewerb zum Holocaust". Das Blatt ist im Besitz der iranischen Hauptstadt Teheran.
Das geistliche Oberhaupt des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, warf dem Westen vor, er messe mit zweierlei Maß. Wenn es um die Mohammed-Karikaturen gehe, dann werde die Pressefreiheit verteidigt, aber "wie kommt es, dass die Pressefreiheit nicht respektiert wird, wenn es um das Abstreiten oder auch nur Zweifel an der Saga des Holocausts geht?". Der Nachdruck der Karikaturen durch mehrere europäische Zeitungen sei eine von Israel ausgehende Verschwörung.
Die iranische Regierung brach alle Handelsbeziehungen mit Dänemark ab. "Keine Waren und Güter aus Dänemark dürfen mehr den iranischen Zoll passieren", sagte Irans Wirtschaftsminister Massud Mirkasemi und erklärte alle Verträge und Verhandlungen mit dänischen Unternehmen mit sofortiger Wirkung für ausgesetzt.
Friedliche Proteste in Kairo
An mehreren ägyptischen Universitäten demonstrierten insgesamt etwa 13.000 Studenten gegen die Veröffentlichung der Karikaturen. Vor der dänischen Botschaft in Kairo versammelten sich 50 Angehörige der linken Protestbewegung Kifaja ("Es reicht") sowie der liberalen Al-Ghad Partei, um schweigend gegen die Mohammed-Karikaturen zu protestieren.
Deutsche Politik auf Deeskalationskurs
Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte in einem Telefongespräch mit ihrem dänischen Kollegen Rasmussen ihre Besorgnis über die anti-dänischen Ausschreitungen zum Ausdruck. Die Krawalle seien bei allem Verständnis für die verletzten Gefühle der Muslime "inakzeptabel".
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte seinerseits die Veröffentlichung der Karikaturen. Er habe keinen Zweifel daran, "dass hier (...) mit einem sehr sensiblen Thema sehr leichtfertig, sehr gedankenlos, vielleicht auch bewusst provozierend umgegangen worden ist".
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Ayyub Axel Köhler, bezeichnete den Ärger über die Karikaturen als berechtigt. Zugleich nannte er Ausschreitungen unislamisch. Zwar seien die "unverschämten Karikaturen" für jeden Muslim eine Kränkung seiner Beziehung zu Gott. Doch sollten sich Muslime nicht provozieren lassen. In Deutschland sei keine Radikalisierung der Muslime zu befürchten, sondern eher das Gegenteil. "Ich fürchte, dass sich Muslime in Deutschland mehr und mehr zurückziehen", sagte er.
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD), betonte, die Bundesregierung verfolge eine "Politik des Aufrufs zur Mäßigung". Alle, die deeskalieren könnten, müssten sich zusammenschließen. Jeder Schritt zur Anheizung des Konflikts müsse vermieden werden.
Vergleich mit Nazi-Zeichnungen
Die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Petra Pau, plädierte für eine "Abrüstung auf allen Seiten" und ein sofortiges Ende der Gewalt. Zu den umstrittenen Karikaturen sagte sie: "Man darf so etwas drucken, aber man muss es nicht". Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn äußerte sich kritischer: "Mich haben sie an die antijüdischen Zeichnungen in der Hitler-Zeit vor 1939 erinnert."
Quelle: ntv.de