Dossier

Taliban-Offensive Alptraum für US-Militär

Noch vor kurzem galt Afghanistan als eine Art "Erfolgsgeschichte" der US-Militärs: Die Taliban-Regierung gestürzt, mit Präsident Hamid Karsai ein Freund des Westens am Ruder - und trotz gelegentlicher Scharmützel im Süden des Landes schien die Sicherheitslage sehr viel besser als im Irak. Alles vorbei: Seit Mai sterben in Afghanistan mehr US-Soldaten als im Irak, das Pentagon fürchtet im Laufe des Jahres eine weitere Offensive der Taliban - und selbst US-Präsident George W. Bush musste jüngst öffentlich einräumen, dass man es mit einem "harten Gegner" zu tun hat. Schon kursieren in Washington Pläne, Soldaten aus dem Irak abzuziehen und ins Krisengebiet Afghanistan zu schicken. Bahnt sich ein Strategiewechsel an?

Überraschend ist die Entwicklung nicht. Seit geraumer Zeit herrscht im Verteidigungsministerium in Washington Sorge über das Erstarken der islamischen Taliban. Den Taliban sei es seit ihrem Sturz Ende 2001 gelungen, sich "zu reorganisieren und als unnachgiebige Aufständischen-Truppe zu agieren", meinte das Pentagon kürzlich in einem Strategiepapier. Die Milizen würden im Laufe des Jahres "vermutlich das Ausmaß ihrer terroristischen Angriffe und Bombenattacken steigern und ausweiten". Während sich die Lage im Irak zunehmend stabilisiert, die Gewalt abebbt und Regierungstruppen Schritt für Schritt mehr Verantwortung übernehmen, steht die Regierung Karsai immer mehr unter Druck. Ausdrücklich heißt es in dem Pentagonpapier, Ziel der Taliban sei es, "die Kontrolle der Regierung in ländlichen Gebieten herauszufordern".

Der "Faktor Pakistan"

Selbst US-Generalstabschef Admiral Mike Mullen zeigte sich beeindruckt von der Stärke der Taliban. "Es sind sehr, sehr erfahrene Kämpfer", deren Gefahr weiter zunehme, zitiert das "Wall Street Journal" Mullen. "Ich bin besorgt über die Geschwindigkeit, mit der die Bedrohung zunimmt." Es hat absoluten Seltenheitswert, dass sich ein hoher US-Militär öffentlich derart anerkennend über islamistische Milizen äußert.

Wie die "New York Times" berichtet, haben US-Kommandeure vor Ort bereits signalisiert, dass sie 10.000 weitere Soldaten in Afghanistan benötigten. Das würde immerhin eine Ausweitung der US-Truppenstärke um fast ein Drittel bedeuten. Aber angesichts des Zwei-Fronten-Krieges, den die USA seit mittlerweile fünf Jahren führen, falle es den Militärs zusehends schwer, frische Truppen bereitzustellen.

Hinzu kommt der "Faktor Pakistan": Immer häufiger und immer offener lassen US-Militärs ihre Unzufriedenheit mit Pakistan und der neuen Regierung dort durchblicken. Die Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan, in denen auch El-Kaida-Chef Osama bin Laden vermutet wird, entwickelten sich immer mehr zu Rückzugsgebieten der Taliban. "Die Grenze ist poröser als vor zwei Jahren", moniert Mullen. "Es ist sehr wichtig, dass darauf mit Operationen geantwortet wird."

Die Krise als Wahlkampfthema

Das Problem mit der porösen Grenze ist derart ernst, dass Mullen persönlich der pakistanischen Führung jüngst ins Gewissen geredet und entschlossenes Handeln gefordert habe. Unter der Hand heißt es, die Militärs fürchten, dass die neue pakistanische Zivilregierung eher ein politisches Auskommen mit den militanten Kämpfern sucht als deren Bekämpfung voranzutreiben.

Schon ist die Krise in Afghanistan zum Wahlkampfthema geworden. Der designierte Präsidentschaftskandidat der US-Demokraten, Barack Obama, ließ verlauten, er wolle 10.000 weitere US-Soldaten nach Afghanistan schicken, falls er den Sprung ins Weiße Haus schafft. Und bei den Militärs gibt es bereits Erwägungen, den Abzug aus dem Irak zu beschleunigen, um in Afghanistan die Löcher zu stopfen. Das Dilemma für Bush: Wenn er mehr Truppen nach Afghanistan schickt, würde er damit öffentlich und kurz vor Ende seiner Amtszeit signalisieren, dass die "Erfolgsgeschichte" Afghanistan der Vergangenheit angehört.

Von Peer Meinert, dpa

Quelle: ntv.de

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