"Ick jeh' zu Doktor Hotte" Atomforum - und keiner geht hin
17.05.2011, 21:20 Uhr
Eine Bewachung des BCC war nicht wirklich nötig.
(Foto: Peter Poprawa, n-tv.de)
"Der Super-Gau im japanischen Atomkraftwerk Fukushima hat am Dienstag zehntausende Berliner auf die Straßen getrieben. Mit spektakulären Aktionen demonstrierten sie gegen die 'Jahrestagung Kerntechnik' des deutschen Atomforums und der Kerntechnischen Gesellschaft." Auf diese Meldung kann der Leser lange warten, denn es wird sie nicht geben. Proteste gibt es zwar, aber in sehr bescheidenem Umfang.
Die "Vollversammlung gegen Atomanlagen", ein Bündnis organisierter Atomkraftgegner, hat für die Dauer des Atomforums zu einem Camp gegen die Atomkraft auf den Berliner Alexanderplatz eingeladen. Ihre Vorstellungen gingen dabei wohl eher in Richtung wendländischer Lagerfeuerromantik. Doch auf dem Alex gibt nun mal keine Bauern, die Strohballen und Brennholz spendieren, niemand seilt sich von Brücken ab, auch gibt es nichts zu schottern. Aus dem Beton des Alex kann man auch keine Pflastersteine puhlen. Ordnungsamt und Polizei untersagten das klassische Camp, genehmigten aber Bühne, Showprogramm, Infostände, Clownerie und eine allabendliche Silent-Disco. Unter Funkkopfhörern rocken hunderte Besucher nach von außen her nicht wahrnehmbaren Rhythmen. Gespenstisch. Hauptstadt eben.
Gesellschaft, Politik, alle sind lernfähig
"Das Festhalten an der Atomkraft gelingt in der Demokratie nur im gesellschaftlichen Konsens. Und den gibt es so nicht mehr. Nach Fukushima noch weniger als vor dem Gau", sagte Luca Köppen, Sprecher der "Vollversammlung". "Wir wollen die Menschen überzeugen, dass es auch ohne Atomkraft geht. Unser Ziel ist eine dezentralisierte Energieversorgung unter demokratischer Kontrolle, beispielsweise in Form von kleinen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Wir sind gegen zentralisierte Energieversorgung. Es geht nicht nur um Anti-Atom, sondern generell gegen riesige Kraftwerke, auch wenn sie anders betrieben werden, etwa mit Kohle oder anderen Fossilen, Off-Shore-Windkraft oder Wasserkraft/Stauseen. Es muss Schluss sein mit der profitorientierten Energieversorgung durch einige wenige Stromriesen", so Köppen. Das sind klare Botschaften. Ob er damit bei den Berlinern landen kann, weiß der Sprecher noch nicht einzuschätzen. "Man muss immer wieder ran und darf der Atomlobby nicht das Feld überlassen", macht er sich Mut.
Das Feld ist heute der Alex. Auf der Bühne spricht eine Moderatorin und kündigt einen Zauberer-Komiker an, der kann seinen Hut in die Luft werfen und mit dem Kopf auffangen. Die rund 75 Zuschauer, darunter zahlreiche Berliner Penner, sind begeistert. Einige applaudieren.
Nur "kurze Ausrutscher"
Während sich an diesem verregneten Dienstag nur wenige Touristen auf dem Alexanderplatz verirren, ein paar Fotos schießen und Anti-AKW-Sticker gegen eine Spende mit nach Hause nehmen, stützen sich die Polizisten gelangweilt auf die Absperrgitter. Die eigentlich komplett unnötig sind – die Gitter. Zum Berliner Congress Center (BCC), dem Tagungsort des Atomforums, will ohnehin niemand.
Die Gäste, Redner und Journalisten sind schon längst eingelassen, die verkürzte Veranstaltung ist in vollem Gange. "Am Vormittag hat es einige kleinere Rangeleien gegeben", sagt Frank Frederking, Leiter des Polizeiabschnitts 32. Er hat mit seinen Beamten dafür zu sorgen, dass die Besucher der Tagung unbehelligt das Kongresszentrum betreten und verlassen können. "Es ist unglaublich friedlich zugegangen. Wir sind hier in Berlin ganz andere Proteste gewohnt." Bis auf einen "kurzen Ausrutscher", als eine Handvoll Demonstranten versucht habe, einen Zugang zum BCC zu blockieren, habe man nicht eingreifen müssen. Und auch das sei nicht der Rede wert gewesen, denn die Atomgegner hätten sich lediglich auf die Straße gesetzt und somit gefährlich in den Verkehrsfluss eingegriffen. "Dabei gab es einen Übereifrigen, den wir vorübergehend festsetzen mussten", so Frederking. Er habe im Übrigen volles Verständnis für die Proteste, denn diese gehörten zu unserer Streitkultur dazu. Von Brutalität seitens der Polizei beim Einsatz vor dem BCC will er nichts wissen. "Das sind die Vorwürfe, die immer kommen", sagt der Einsatzleiter. Aber auch diese verbalen Attacken gehörten zur Protestkultur.
Veranstalter streichen das Streichquartett
Auch wenn die Proteste gegen das Atomforum kaum einen Berliner erreichen, dürften die Veranstalter dennoch kalte Füße bekommen haben. Die traditionelle Auftaktveranstaltung am Vorabend des Treffens wurde kurzerhand abgesagt. Der Veranstaltungsort für die "Camerata Nucleare", dem Streichquartett der Kernphysiker, war ihnen zu unsicher. Dort, im alten Kino "Kosmos", sollte der Demonstrationszug, der in Kreuzberg begann, enden. Zahlreiche Autonome waren erwartet worden. Am Ende verlief alles friedlich, die Veranstalter zählten 800 Teilnehmer, die Polizisten traditionsgemäß weniger.
Auch wenn sich Luca Köppen nicht so recht darüber freuen mag, dass Bundesumweltminister Norbert Röttgen die Abschaltung nur von vier AKW in Aussicht stellt, spricht er von einem Anfang. "Sicher, alle acht wären jetzt der richtige Fingerzeig gewesen, aber immerhin geht die Politik jetzt auf den gesellschaftlichen Wandel ein. Noch vor wenigen Monaten wäre das undenkbar gewesen." Man müsse weiter trommeln, argumentieren, Plakate, Fähnchen und Sticker an den Mann und die Frau bringen.
Und tatsächlich sind die Anti-AKW-Sticker sehr begehrt – vor allem bei japanischen Touristen. Die Berliner wollen noch nicht so recht ran und ihre "Wut über die Atommafia zum Ausdruck bringen", verrät eine der Organisatorinnen der "Vollversammlung" neben der Bühne. "Noch ist nicht aller Tage Abend, das Forum läuft noch. Die AKW-Gegner werden da bleiben. Das Jahr hat schließlich 365 Tage für Aktionen gegen die Atommafia."
Vor irgendwo her kommt Bier und einer Zuschauer freut sich auf heute Abend: "Dann komm ick wieder. Heute soll Doktor Hotte Schallplatten ufflejen." Der weltbekannte Diskjockey und Erfinder der Loveparade, Dr. Motte, wird erstaunt sein, wenn seine neue Fan-Gemeinde unter Kopfhörern rockt und die Hauptstadt davon nichts mitbekommt.
Quelle: ntv.de