"Schlacht von Nizza" Büchse der Pandora in Brüssel
21.06.2007, 13:03 UhrIn Brüssel kursiert wieder einmal die Hemdenfrage. "Ich habe zwei im Gepäck", meint ein EU-Diplomat und signalisiert damit: Es gibt zähe Verhandlungen, die sich bis zum Samstag hinziehen. Im Streit um einen neuen EU-Grundlagenvertrag sind Nerven zehrende Nachtsitzungen möglich. "Es wird wohl länger dauern als üblich" - dieser Spruch ist zum Auftakt des Mammuttreffens der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag öfters zu hören.
EU-Vertragsreform, Marathonsitzungen, Veto-Drohungen: Bei Angela Merkels härtestem Europa-Gipfel werden Erinnerungen an die Konferenz von Nizza wach. Sie dauerte vom 7. bis 11. Dezember 2000 und war die längste der EU-Geschichte. Regierungsvertreter und Diplomaten denken mit Grauen an die Schlacht um Macht und Einfluss in den EU-Institutionen zurück. Dem Pariser Edel-Partyservice Lentre, der heute noch mit Nizza Reklame macht, gingen am Ende Teller und Speisen aus.
Nationale Egoismen traten angesichts von Stress und Übermüdung ungeschminkt zu Tage. Der französische Sozialist Pierre Moscovici, damals Europaminister seines Landes, sprach von der erbittertsten EU-Begegnung überhaupt. Der damals wie heute amtierende luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker resümierte: "Wenn Nizza jeden Tag stattfände, wären wir schnell wieder in alten Gefechtslagen -wenn auch ohne scharfe Munition."
Ein Schlüsselproblem hat sich seit damals nicht grundlegend verändert. Schon in Nizza sahen sich die Polen bei der Stimmverteilung im Brüsseler Ministerrat, der Machtzentrale der Union, benachteiligt. Damals war Polen zwar noch nicht EU-Mitglied, doch es wurde schon für die Kandidatenländer verhandelt. Auch mit deutscher Hilfe drückte Warschau die Stimmenparität mit Spanien durch. Der vielkritisierte Pariser Minister Moscovici rechtfertigte sich später, der Vorschlag, Polen nur 26 Stimmen - und damit zwei weniger als Spanien - zuzubilligen, sei nur ein Kommunikationsfehler gewesen. Ende gut, alles gut: Beide Länder erhielten schließlich 27 Stimmen.
Verhandlungen über die Machtverteilung in Brüssel waren auch in den Folgejahren hart und gnadenlos. Im Dezember 2003 scheiterte Gipfel-Gastgeber Silvio Berlusconi am Widerstand Polens und Spaniens, die EU-Verfassung unter Dach und Fach zu bringen. Grund für die Blockade war, es verwundert kaum, die Stimmenverteilung.
Berlusconi als damaliger italienischer Regierungschef versprach einen Geheimvorschlag, den er auf einem Zettel im Ärmel habe. Am Ende stand er jedoch mit leeren Händen da. Auch die Aufforderung an die deutschen Spitzenvertreter Gerhard Schröder (Kanzler) und Joschka Fischer (Äußeres), als bekannte "Womanizer" zur Entspannung mal über Frauen zu sprechen, sorgte eher für Verstimmung. Einziger Vorteil: Die Begegnung unter römischer Regie artete nicht zu einer Mammutsitzung aus.
Die Einigung auf die EU-Verfassung gelang den "Chefs" erst im Juni 2004 unter irischer Präsidentschaft. Damals wurde das Prinzip der "doppelten Mehrheit" festgelegt - für einen Beschluss im Ministerrat werden 55 Prozent der Länder benötigt, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen. Alle Länder, auch die gerade neu aufgenommenen in Mittel- und Osteuropa, saßen am Tisch. Die Regel wird aber nun von Polen und Tschechien wieder in Frage gestellt. Angesichts der bitteren Erfahrungen der vergangenen Jahre wehren sich die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und die große Mehrheit der Mitgliedstaaten, wieder eine Debatte um die Abstimmungsregeln zuzulassen. "Damit öffnen wir die Büchse der Pandora", warnt ein EU-Diplomat.
Von Christian Böhmer, dpa
Quelle: ntv.de