Ereignisse überschlagen sich Chaos in Palästina
16.05.2007, 14:45 Uhrvon Ulrich W. Sahm
Der Gazastreifen versinkt im Chaos. Raketensalven schlagen in der israelischen Stadt Sderot ein, allein 30 am Dienstagabend. Es gab dutzende Tote bei Attacken von Hamas-Kämpfern auf Fatah-Posten und Verletzte in der israelischen Grenzstadt. Die Ereignisse überschlagen sich und dennoch passiert (noch) nichts.
Die Hamas erklärte Israel den Krieg, indem sie die Verantwortung für den Beschuss Israels mit Raketen übernahm, aber Israel reagiert (vorläufig) ohne zu reagieren. "Wir wollen uns nicht in die inneren Streitereien der Palästinenser einmischen und nicht in den Gazastreifen saugen lassen", lautete die Formel nach einer Sicherheitsberatung des Verteidigungsministers Amir Peretz mit der Militärspitze. Kampfhubschrauber stehen in der Luft, verschießen aber ihre teure Munition in "offenes Gelände". Die Schubladenpläne der Militärs, von gezielten Tötungen, Jagd auf Schützen der Kassamraketen, Treffer auf Häuser der Hamas-Verantwortlichen und bis hin zu einem kompletten Einmarsch mit zahlreichen vorhersehbaren Toten auf beiden Seiten werden von den Politikern (noch) nicht genehmigt.
Doch der Druck aus der Bevölkerung vor allem in Sderot wächst. Hunderte Bewohner der Kleinstadt wurden in Sicherheit gebracht, weil ihre billigen Sozialwohnungen aus den fünfziger Jahren keine Sicherheitsräume aus Stahlbeton haben. Seit sechs Jahren explodieren Kassamraketen in Sderot und die Regierung versprach, die Dächer der Schulen und Häuser zu verstärken. Aber nichts ist passiert. Am Mittwoch erklärte das Ministerpräsidentenamt, umgehend eine "Bestandaufnahme machen zu wollen, um zu prüfen, welche Arbeiten zum Schutze der Bevölkerung vorgenommen werden müssen". Empört sagte Jaffa Malka nach einem Volltreffer auf ihr Haus: "Olmert und Peretz sollen sich endlich aus den Fesseln der Überreaktion des Libanonkrieges lösen oder zurücktreten. Wir wollen ein normales Leben führen." Ein anderer Bewohner der Stadt, "in der man wie beim Roulette lebt", empörte sich über die Geldverschwendung, leere Felder zu beschießen, "anstatt militärisch den Raketenbeschuss zu beenden."
Am Dienstag erreichten die Kämpfe zwischen den Islamisten und der Fatah einen Höhepunkt, nachdem ein Hamas-Befehlshaber erschossen wurde. "Aus Rache" stoppten Hamas-Kämpfer einen Jeep der Leibwache des Präsidenten Mahmoud Abbas, stellten die neun Männer in eine Reihe und ermordeten sie mit Kopfschüssen. Einer stellte sich tot und überlebte. Um grausame Rache der Fatah an der Hamas abzuwenden, bemühten sich die Islamisten um israelische Schützenhilfe: Nicht die Hamas habe die Fatah-Gardisten umgebracht, sondern eine Panzergranate der Israelis. Doch der Trick funktionierte nicht. Israel dementierte und die Fatah behauptete, einen Funkspruch mit dem Befehl der Hamas abgefangen zu haben, die Leibgarden zu töten. Stunden später griffen Hamas-Kämpfer auch das Haus des Geheimdienstchefs Raschid Abu Schbak an. Sechs Wachmänner wurden getötet und das Haus stand in Flammen. "Die Fatah hat zuerst geschossen", behauptete die Hamas. Ägyptische Geheimdienstleute wollten einzugreifen und gerieten ins Kreuzfeuer.
Nach Israels Rückzug im Sommer 2005 hatten die Palästinenser nach den Worten von Schimon Peres die Alternative, den übervölkerten Landstreifen in ein "Singapur oder Somalia" zu verwandeln. Längst ist die zweite Möglichkeit Realität geworden, mit völliger Rechtlosigkeit, Machtkämpfen zwischen schwerbewaffneten Familienclans, Tatenlosigkeit von 70.000 "Polizisten" im Sold des Präsidenten Abbas und Kampfeswillen der bestens trainierten Hamas-Miliz. Dutzende Tonnen Sprengstoff, Raketen, Panzerfäuste und sonstigen Waffen hat sie in den Gazastreifen geschmuggelt. "Die riesigen Mengen Kampfstoffe im größten Terrorlager der Welt bedeuten zunehmend eine strategische Gefahr für Israel", kommentierte ein israelischer Offizier. Gegenseitige Morde, Entführungen, darunter auch des britischen BBC-Reporters Allen Johnston vor über einem Monat durch eine mutmaßlich El Kaida nahestehende Gruppe und Straßenkämpfe bestimmen den Alltag im Gazastreifen. Fast alle Ausländer und Journalisten haben Gaza verlassen.
Trotz des Abzugs im August 2005 und dem Abriss aller Siedlungen im Gazastreifen, gilt Israel laut Völkerrecht weiterhin als "Besatzer". Israel kontrolliert nicht nur die Grenzen, sondern verbietet den Palästinensern auch, auf das Meer hinauszufahren. Die Grenze nach Ägypten wird in Abstimmung mit Israel von internationalen Beobachtern überwacht. Die Palästinenser klagen zu Recht, in ein riesiges "Freiluftgefängnis" gesteckt worden zu sein. Aber das hindert die Familienclans nicht, unter der Grenze nach Ägypten hinweg durch Tunnel tonnenweise Waffen und Munition zu schmuggeln. Die Preise treiben sie in die Höhe, indem sie regelmäßig die Grenzterminals zu Israel angreifen und ihre Schließung erzwingen. Die Ermordung der acht Präsidentengarden geschah in Sichtweite des Karni-Terminals, der "Lebensader" des Gazastreifens. Die Garden hatten die Aufgabe, den Grenzübergang zu beschützen, um Israel "keinen Vorwand" zu liefern, ihn zu schließen. Hunderte Lastwagen bringen täglich Mehl, Öl, Gemüse und andere Produkte zu dem Warenumschlagplatz, wenn der nicht wegen Kämpfen auf der palästinensischen Seite mal wieder geschlossen ist.
Quelle: ntv.de