Dossier

Kinderlähmung Der Kampf gegen die Seuche

Von Tania Greiner

„Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“. In Erinnerung geblieben ist dieser Slogan vielen. Ein mit Impfstoff beträufelter Würfelzucker, gleichzeitig süß und bitter im Geschmack, wurde zur Wunderwaffe systematischer Impfaktionen. Sie wurden 1962 in Deutschland gestartet und befreiten von Angst und Schrecken. Der Beginn einer medizinischen Erfolgsgeschichte. Sie ließ die Infektionskrankheit mit tödlichen Folgen heute nahezu in Vergessenheit geraten.

Der Durchbruch vor 50 Jahren

Zu verdanken ist der medizinische Durchbruch dem amerikanischen Wissenschaftler Jonas Edward Salk aus Massachusetts, dem es vor 50 Jahren gelang den ersten wirksamen Impfstoff zu entwickeln. Drei Jahre lang führte er an mehr als 1,8 Millionen amerikanischen Kindern Tests zur Polio-Immunisierung durch. Am 13. April 1955 -wurde das Serum schließlich zur allgemeinen Anwendung freigegeben. Es musste injiziert werden.

Spritze oder Schluckimpfung

In Deutschland wird erst seit 1998 per Spritze gegen Kinderlähmung geimpft. Der Vorteil: Es wird, wie bei Salk, ein so genannter Todimpfstoff mit inaktivierten Viren injiziert. Er ist nicht in der Lage, eine Polio auszulösen. Anders bei der Schluckimpfung, sie enthält einen Lebendimpfstoff, also lebende, aber abgeschwächte Erreger. Diese können in einem Fall von mehreren Millionen Schluckimpfungen selbst eine Kinderlähmung auslösen. Der Amerikaner Albert Sabin stellte diesen auf der Basis lebender Viren entwickelten Impfstoff erstmals her. 1961 wurde dieser von der amerikanischen Regierungsbehörde zugelassen und setzte sich trotz des verbleibenden Restrisikos gegenüber der Salkschen Vakzine durch. Denn eine orale Verabreichung erwies sich als schneller und wesentlich einfacher.

Nur wenige wissen heute, dass die spinale Kinderlähmung bis 1961 in Deutschland wütete. Katastrophale Ausmaße nahm die Epidemie 1952 an: 10.259 infizierte Personen wurden in Ost- und Westdeutschland registriert. Bei 70 Prozent der Polio-Erkrankten traten Lähmungen auf. Zwar versuchten Ärzte durch Injektionen von Immunglobulin, die körpereigenen Abwehrkräfte bei gesunden Patienten zu stärken. Einen wirklichen Schutz vor der Infektion gab es jedoch nicht.

Gelähmt ein Leben lang

Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte Poliomyelitis für Kinder wie auch für Erwachsene fatale Folgen haben: Ein Leben im Rollstuhl oder für immer an Krücken oder Schienen gefesselt. Da die Seuche auch vor Erwachsenen nicht halt macht, gilt die Bezeichnung spinale Kinderlähmung heute als veraltet. Polio ist höchst ansteckend, wird über Tröpfchen übertragen und verläuft in 95% der Fälle ohne erkennbare Krankheitssymptome oder ähnelt einer Grippe. Der Verlauf hängt sehr stark von der Widerstandskraft und vom Ernährungszustand des Erkrankten ab. Sind diese geschwächt kann es über Nacht zu rasch fortschreitenden Lähmungen kommen. Dabei befallen die Viren die motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark. In schweren Fällen kann der ganze Körper wie auch die Atemmuskulatur gelähmt sein. Ein tödlicher Verlauf der Krankheit ist dann nicht selten. Überlebt der Patient, ist er fürs Leben gezeichnet. Bei einer Erkrankung im Kindesalter kommt es zum Wachstumsrückstand der befallenen Glieder. Durch ungleiche Muskelbeanspruchung können Gelenkverformungen oder andere Deformierungen entstehen.

Dieses Krankheitsszenario stellt dank der Schluckimpfung heute kaum noch eine Bedrohung in Deutschland dar. Nach den letzten Infektionen 1963, trat hierzulande erst 1992 wieder ein einzelner Polio-Fall auf. Seit 1993 ist der gesamte amerikanische Kontinent durch eine konsequente Impfpolitik frei von Kinderlähmung. Auch die meisten Industrienationen Europas gelten heute als poliofrei. Aber ausgerottet ist das Virus noch lange nicht.

Stoppt Polio!

Weltweit sind immer noch Länder in Afrika und Asien von Polio-Epidemien betroffen. So etwa vor allem Nigeria, Niger, Indien, Pakistan, Afghanistan und Ägypten. Seit 1988 wird in einer Kampagne von UNICEF, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Rotary International und anderer Partner ein internationaler Kampf zur Ausrottung von Polio geführt. Bislang wurden rund zwei Milliarden Kinder geimpft. Zählte man 1988 noch 350.000 Neuinfektionen in 120 Ländern, so ging diese Zahl bis 2001 auf 480 Fälle in zehn Ländern in Afrika und Asien zurück. Die Arbeitsgemeinschaft feiert jedoch nicht nur Erfolge. Erst kürzlich mussten die Projektmitarbeiter dramatische Rückschläge hinnehmen. Ende 2003 breitete sich die Seuche von Nordnigeria in insgesamt 14 nahezu poliofreie, afrikanische Länder aus. Der Grund: Die Impfkampagnen mussten dort abgebrochen werden, nachdem islamische Geistliche behauptet hatten, der Impfstoff sei manipuliert und mache unfruchtbar oder übertrage das HIV-Virus. Laut UNICEF verzeichnet Nigeria heute 63% aller Polio-Fälle.

„Solange das Polio-Virus noch irgendwo auf der Welt verbreitet ist, kann es überall hin zurückkehren“, erklärt Dietrich Garlichs, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland. 2005 sollte der Kampf gegen Polio gewonnen sein. Auch wenn das Ziel in die Ferne gerückt ist, sieht er „den Kampf gegen die Kinderlähmung in einer entscheidenden Phase“. Die Ausrottung der Seuche ist deshalb möglich, weil der Polio-Erreger außerhalb des menschlichen Körpers nur kurze Zeit überleben kann. Sind alle Menschen geimpft, findet er keinen „Wirt“ mehr.

Wer sich aber hierzulande in wohliger Sicherheit wiegt, der täuscht sich. In Deutschland verfügen 87% aller Jugendlichen, aber nur 67% der über 40-Jährigen über einen ausreichenden Impfschutz. Seit Jahren macht sich in Deutschland eine Impfmüdigkeit oder gar eine Impfangst breit. Kinder ist eine Impfung aber ratsam, denn Reiselust und Globalisierung machen eine Ansteckung prinzipiell immer möglich.

Quelle: ntv.de

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