Dossier

Heinz-Peter Meidinger bei n-tv.de "Die Reformen sind schlecht vorbereitet"

Die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre sei "ein Musterbeispiel für eine verfehlte Reform", sagt Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Philologenverbands. Die Kultusminister hätten nicht bedacht, dass diese Reform sich ohne die Umstellung auf Ganztagsschulen nicht verwirklichen lässt. Die Umwandlung in ganztägigen Schulbetrieb kommt - das dabei unerlässliche zusätzliche Personal gibt es nicht.

n-tv.de: An den deutschen Gymnasien wird seit dem Pisa-Schock Ende 2001 intensiv reformiert: Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten, Zentralabitur, "Turbo-Abitur", Ausbau zur Ganztagsschule ...

Heinz-Peter Meidinger: Das Stichwort "selbstständige Schule" kann man noch ergänzen.

Gibt es hinter all diesen Reformen einen roten Faden oder ist das ein eher unkoordiniertes Herumdoktern?

Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Natürlich gibt es Handlungsbedarf an den Schulen, und natürlich steckt hinter einigen Reformen ein sinnvolles Modell. Aber wir erleben derzeit viele Reformen, die nicht aufeinander abgestimmt oder einfach schlecht vorbereitet sind. An den Schulen hat das zu einer starken Skepsis gegenüber Reformen geführt - häufig auch denen gegenüber, die durchaus sinnvoll sind.

Zum Beispiel?

Sinnvolle Reformen sind etwa die Bildungsstandards. Sie zielen darauf ab, dass Lehrer stärker darauf achten, ob wirklich die Mehrzahl der Schüler die Regelstandards erreicht, sie sorgen für eine stärkere Output-Orientierung. Sinnvoll ist auch die Hinwendung zur verstärkten individuellen Förderung. Allerdings werden den Schulen nicht die nötigen Ressourcen gegeben. Jede Reform wird von ausführlicher Lyrik begleitet, dann aber miserabel ausgestattet. Keine Reform wird richtig evaluiert. Das führt zu einer gewissen Resignation bei den Kollegen.

Bei vielen Reformen sieht es so aus, als würden sie durch die Hintertür eingeführt: Die Zahl der Schuljahre zum Abitur wird verkürzt, in der Folge muss nachmittags unterrichtet werden, die Schule wird zu einer Ganztagsschule, in der es nur leider kein Mittagessen für die Schüler gibt.

Das G8, das achtjährige Gymnasium, ist ein Musterbeispiel für eine verfehlte Reform. Zunächst wurden die Betroffenen überhaupt nicht eingebunden. Zweitens argumentierten die Kultusminister, international sei das Abitur nach zwölf Jahren üblich. Dabei wurde aber außer Acht gelassen, dass die entsprechenden Länder Ganztagsschulen haben oder, wie Österreich, Samstagsunterricht. Schließlich wurde kein zusätzliches Personal für die Schulen zur Verfügung gestellt. Sie haben Recht: Man hat eine Reform durchgeführt, ohne die Konsequenzen zu bedenken.

Wie ist es mit dem Niveau der Abiturprüfungen in Deutschland: Sind die Abiture zwischen Ostsee und Bodensee miteinander vergleichbar?

Einen echten Abiturvergleich gibt es bisher nicht, da kann man nur auf andere Vergleichsuntersuchungen zurückgreifen, etwa auf Pisa. Zwischen Bremen und Bayern wurden da Kompetenzunterschiede von zwei Lernjahren ermittelt. Bei Pisa wurden zwar 15-Jährige geprüft, aber Sie können davon ausgehen, dass der Unterschied bis zum Abitur eher größer wird. Außerdem gibt es die TIMMS-Untersuchungen, die den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht bei 18-Jährigen getestet haben. Dort gibt es im Grunde dasselbe Leistungsgefälle, das Pisa zwischen den Ländern festgestellt hat - vielleicht ein bisschen geringer, weil das Gymnasium, jedenfalls zeigt das Pisa, den Leistungsanspruch stärker verteidigt hat als andere Schularten.

Die Kultusminister haben im Oktober beschlossen, die Bildungsstandards beim Abitur stärker anzugleichen? Wird das Niveau im Süden sinken oder im Norden steigen?

Die Frage ist: Werden die Bildungsstandards kontrolliert, entsprechen die in den jeweiligen Ländern geschriebenen Schularbeiten den Standards, wird entsprechend korrigiert? Das ist die Aufgabe des IQB in Berlin, des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Ich befürchte, dass das IQB viel zu schwach ausgestattet ist. Die können allenfalls Stichproben nehmen. Und was passiert, wenn herauskommt, dass Bildungsstandards nicht eingehalten werden? Werden solche Ergebnisse dann veröffentlicht? Da haben wir schlechte Erfahrungen mit der KMK gemacht.

Es heißt, das IQB sei damit beschäftigt, bis 2013 ein bundesweites Zentralabitur zu entwickeln. Offiziell wird das dementiert, die KMK hat sich ja ausdrücklich gegen das bundesweite Zentralabitur ausgesprochen.

Das IQB muss jetzt erst mal die Standards erarbeiten - nicht für alle Abiturfächer, sondern nur für bestimmte, für Mathematik, Deutsch und die Fremdsprachen. Damit sind die schon mal schwer beschäftigt. Unabhängig davon gibt es neuerdings die Absichtserklärung der Süd-Länder, Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen, die im Viererverbund einen Pool an Abituraufgaben erarbeiten wollen. Aber da ist noch viel Arbeit zu leisten: Zum einen, weil die Lehrpläne voneinander abweichen. Und zweitens, weil ein Problem kaum zu lösen ist: Ein bundesweites Zentralabitur müsste am selben Tag in ganz Deutschland geschrieben werden. Dann bräuchte man eine ganz andere Ferienordnung. Allein daran würde das scheitern.

Wieso bräuchte man eine andere Ferienordnung? Die Abiturienten hören doch sowieso nicht mit dem Schuljahresende auf.

In einigen Bundesländern wird das Abitur schon im März geschrieben, in anderen erst im Juni. Man bräuchte eine Angleichung, die dafür sorgt, dass der Abiturtermin nicht in die Ferien fällt. Mir ist gesagt worden, dieses Problem sei nur lösbar, wenn die Ferienzeiten angeglichen werden - und dann protestiert die Tourismusbranche.

Sie glauben nicht, dass ein bundesweites Zentralabitur eingeführt wird?

Ich glaube nicht, dass das Bundeszentralabitur das Problem der Vergleichbarkeit löst. Pisa hat gezeigt, dass nicht nur die Leistungen in den Bundesländern unterschiedlich sind, sondern dass die Leistungen auch unterschiedlich benotet werden. Wir bräuchten also nicht nur ein bundesweites Zentralabitur, sondern auch noch bundeseinheitliche Korrekturkriterien. Das umzusetzen wäre wahrscheinlich noch schwieriger. Aber wir haben doch schon jetzt einen Riesenfortschritt: Mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz haben alle Bundesländer das Zentralabitur eingeführt oder zumindest beschlossen. Jetzt müssen die Anforderungen in den Landeszentralabiturprüfungen angeglichen werden - allerdings nicht so, dass die Leistungsstandards in Ländern wie Baden-Württemberg oder Bayern sinken.

Sie haben schon angesprochen, dass die Vielzahl der Reformen bei den Lehrern zu einer gewissen Resignation führt. Bräuchten Lehrer, aber auch Schüler, nicht eine Reform-Pause?

Ich will nicht den Eindruck entstehen lassen, dass die Lehrer sich den Reformen widersetzen. Im Gegenteil: Gerade bei den jungen Kollegen erlebe ich eine große Aufbruchstimmung. Aber die Schulen brauchen jetzt eine Phase, in der die Reformen mit Ruhe und Konsequenz durchgeführt und dann auch evaluiert werden können, bevor neue begonnen werden. Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, ist das Problem der Überlastung. Wir hatten mehrfach Arbeitszeiterhöhungen für Lehrer, und wir haben in Deutschland mittlerweile sehr hohe Klassenstärken.

Ein Sprecher eines Kultusministeriums sagte mir, wenn das Schulkonzept stimme, dann sei es egal, ob 16 oder 28 Kinder in einer Klasse unterrichtet werden.

Das ist Unsinn, das ist eine Fehlinterpretation der Pisa-Ergebnisse. Die Klassenstärken spielen nur dann keine Rolle, wenn der Lehrer seinen Unterricht nicht umstellt. Ich sage mal das böse Wort Frontalunterricht. Wenn einer ausschließlich lehrerzentriert unterrichtet und nicht auf die Schüler eingeht, ist es natürlich egal, ob er das vor 18 oder vor 30 Schülern macht. Wenn er aber die kleinere Klasse nutzt, um schülerzentriert und individualisiert zu arbeiten - und die jetzige Lehrergeneration wird dazu ausgebildet -, dann hat das einen großen Effekt.

Ich habe auch mit Marianne Demmer von der GEW gesprochen und ihr ähnliche Fragen gestellt wie Ihnen. Es ist erstaunlich, wie ähnlich viele Antworten sind - der Philologenverband und die GEW sind ja nicht unbedingt immer einer Meinung.

Wir haben natürlich unterschiedliche Ansichten, was die Schulstruktur betrifft. Ich bin der Auffassung, dass die Umstellung auf die Gemeinschaftsschule eher Verschlechterungen bei den Leistungen oder bei der begabungsgerechten individuellen Förderung bringen würde. Aber je praktischer die Fragen werden, umso ähnlicher sind oft die Positionen der Verbände. In der Praxis machen wir ja dieselben Erfahrungen.

Mit Heinz-Peter Meidinger sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen