Dossier

Nordirland unter dem Friedensvertrag Die andere Teilung

Alan McBride ist klein, die schwarze Brille und der gepflegte Igelschnitt lassen ihn jünger als 42 aussehen. In seinen Sätzen sagt er nie "ich", sondern immer "wir". McBride ist vieles: Sozialarbeiter, Protestant, Kolumnist der Tageszeitung "Belfast Telegraph", Leiter des nordirischen Traumazentrums "Wave". Aber vor allem ist er eines: Opfer. Opfer des 40-jährigen Konflikts zwischen pro-britischen, protestantischen Unionisten und pro-irischen, katholischen Nationalisten. Das vor zehn Jahren zwischen beiden Parteien unterzeichnete Belfaster Abkommen sollte Frieden schaffen - mit mehr oder weniger Erfolg.

Für McBride ist der Konflikt zwar vorbei, "aber die Denkweisen, die ihn verursachten, leben in vielen Teilen der Gesellschaft weiter". In seiner Zeitungskolumne behauptet er, dass die nordirische Demokratie noch gar keine richtige Demokratie sei, weil eine wirksame Opposition fehle. Mit der Initiative will er seinen Widerstand pflegen, will für die Opfer streiten.

Traumatisiert von Kugelhagel oder Todesfällen

Das Traumazentrum befindet sich nahe dem Chichester Park in einem dreistöckigen Haus mit Garten. McBride sitzt in einem lichtdurchfluteten Raum. An den Wänden hängen Fotos von Mitgliedern des Zentrums, Leinwände mit farbigen Handabdrücken und Aquarelle, die in Entspannungskursen gemalt wurden. Der 1991 gegründete Opferverband zählt heute fünf Einrichtungen in ganz Nordirland mit 30 Mitarbeitern und noch mal so vielen Freiwilligen. Hier finden sich Menschen zusammen, die im Kugelhagel verwundet wurden oder Verwandte in den Kämpfen verloren haben, um über ihre Erlebnisse zu reden. Wave bietet ihnen Traumabewältigung, psychologische Beratung oder auch einfach einen Raum, um kreativ zu sein, sich abzulenken von bösen Erinnerungen.

McBrides Geschichte beginnt vor 15 Jahren, mittlerweile kennt sie hier jeder. "Ich erinnere mich genau an den Tag, es war hell und sonnig." McBride kam gerade von einem erfolgreichen Interview zurück. Er wollte seiner Frau Sharon gleich davon erzählen. Sie arbeitete an jenem Tag im Fischladen ihres Vaters. "Gegen Mittag rief mich ein Freund an: "Hast du von der Bombe im Shankill gehört?" Ich rannte zu der Stelle, direkt neben dem Fischladen, wo sich schon eine Menge versammelt hatte." Seine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Sharon lag leblos unter den Trümmern. Der Hass, der die Gesellschaft teilte, wurde zu ihrem Henker.

Symbolfigur der Versöhnung

Lange suchte der Ehemann in der politischen Aktion einen Sinn, reiste dem Chef der katholischen republikanischen Partei Sinn-Fin, Gerry Adams, hinterher, um ihn zu fragen, warum seine Frau sterben musste. "Und dann geschah etwas Bedeutendes: Mir wurde eine Stelle im irischen Nationalrat des Jugendverbands angeboten, speziell für Frieden und Versöhnung", erzählt McBride. Zum ersten Mal dachte er über die Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken nach und fragte sich, wie es überhaupt zu dem Konflikt kommen konnte. Und was seine Rolle im Friedensprozess sein könnte. Er sprach mit früheren Terroristen und wurde zur Symbolfigur der Versöhnung.

Wie McBride muss man laut protestieren, um in Nordirland als Opfer wahrgenommen zu werden. Denn es gibt zu viele davon: Rund 3500 Tote und 47.000 Verletzte forderte der Konflikt - das ist ein Opfer auf 30 Einwohner. Der Friedensprozess wurde mit dem Belfaster Abkommen eingeleitet. McBride stimmte dafür - obwohl es die Freilassung aller Terroristen bedeutete. Der Attentäter der Shankill-Bombe saß nur vier Jahre für den Mord an Sharon und acht weiteren Menschen im Gefängnis. "Aber was war die Alternative zu dem Abkommen?", fragt der Sozialarbeiter. "Lieber wollte ich diese Leute in der Regierung, als weitere 30 Jahre bewaffneten Kampf in Nordirland."

"Kicherbrüder" friedlich vereint

"Diese Leute", das sind heute die früheren Todfeinde Ian Paisley, der 81-jährige Premierminister der protestantischen Demokratischen Unionisten-Partei (DUP), und sein Stellvertreter, der ehemalige IRA-Kommandant Martin McGuinness von der katholischen Sinn Fin ("Wir selbst"), dem früheren politischen Arm der Terrororganisation. Seit knapp einem Jahr regieren sie friedlich die Provinz. Sie sind ein ungleiches Pärchen, eröffnen gemeinsam - grinsend wie Hände schüttelnd - IKEA-Filialen und Einkaufszentren. Die Medien haben ihnen den Spitznamen "Kicherbrüder" verpasst. Alan McBride schüttelt den Kopf. "Die Beziehungen zwischen Unionisten und Nationalisten sind längst nicht so kuschelig."

Die sensibelste Frage, die im Belfaster Abkommen zunächst ausgeklammert wurde, ist noch immer nicht gelöst: der Status der nordirischen Polizei. Die pro-irischen Nationalisten betrachteten die überwiegend protestantische Polizei jahrzehntelang als Unterstützer der britischen Besatzungsmacht. Bis Mai sollte die politische Gewalt über die Polizei von London nach Belfast übertragen werden. Doch die Entscheidung gilt als gescheitert, vor allem wegen des Widerstands der Protestanten.

Polizisten leben gefährlich

Einer der extremeren unionistischen Abgeordneten, der in der Polizeiaufsichtsbehörde sitzt und die eilige Übertragung der Polizeimacht auf Regionalebene strikt ablehnt, ist Peter Weir. Er war einer der größten Kritiker des Belfaster Abkommens. Sein kleines Büro in Bangor, durch die großen Schaufenster komplett einsehbar, zieren zwei britische Union-Jack-Flaggen. Hinter dem Schreibtisch hängt ein Gemälde der Queen. Unter der Treppenstiege türmen sich leere Kartons, Wahlposter und volle Plastikmüllsäcke. Weir redet ausschweifend und nur in optimistischen Sätzen wie: "Die politische Arbeit mit der Sinn Fin klappt reibungslos." Doch über die Polizeifrage öffnen sich die alten Gräben wieder. "Das Vertrauen in der Bevölkerung ist noch nicht da. Man sollte sich für diese wichtige Entscheidung mehr Zeit lassen", sagt er.

Gerade dieses Vertrauen will die nordirische Polizei eigentlich steigern. Dafür sollen die Polizeibeamten verstärkt ohne gepanzerte Wagen, Gewehre oder kugelsichere Westen in die gefährlichen republikanischen Problemviertel gehen. Diese No-Go-Areas wurden bis vor einem Jahr noch der britischen Armee überlassen. 15 Einheiten waren während des Konflikts in Nordirland stationiert, mehr als im Irak und in Afghanistan zusammen. Jetzt muss sich die Polizei um diese Gebiete kümmern. Eine riskante Arbeit, wie die Statistik zeigt. Die Zahl der Anschläge auf Polizisten ist in den vergangenen fünf Jahren um 40 Prozent auf 2727 pro Jahr angestiegen. Erst am Ostermontag warfen Republikaner am Rande einer Parade in der Grenzstadt Londonderry Steine und Molotov-Cocktails auf Polizisten. Im Dezember wurde ein Beamter ermordet.

Demarkationslinien in Belfast

Eines dieser Problemviertel in Belfast ist der Norden. Dort prallen protestantische und katholische Straßenzüge aufeinander. Viele davon werden durch dicke, haushohe Mauern getrennt, die eigentlich einmal zum Schutz gegen Geschosse und Handgranaten von der Gegenseite errichtet wurden. "Peace Walls" nennt man sie hier, Friedensmauern. 22 davon findet man noch in der Stadt. Es ist ein ausgeklügeltes Absperrsystem aus Zäunen, Mauern, Stacheldraht und Umgehungsstraßen.

Die schmalen Hintergassen an den Demarkationslinien sind beladen mit Müll, auf den Mauern ragt rostiger Stacheldraht. Die Fenster einer Kirche sind vermauert. Hohe Arbeitslosigkeit, sektiererische Gewalt und Jugendrandale - an diesem Viertel ist der Aufschwung der Stadt vorbeigegangen. Erschüttert über die hohe Selbstmordrate taten sich katholische und protestantische Jugendliche zusammen. Sie sammeln Geld durch Fußballspiele, um gegen Suizid und Drogenmissbrauch anzukämpfen. Im Dezember stürzte sich einer der Gründer in den Tod.

Der religiös-nationalistische Hass findet in diesem Milieu einen guten Nährboden. Die Kinder wachsen in einer verriegelten Nachbarschaft auf und gehen auf getrennte Schulen. Nur etwa sieben Prozent der nordirischen Kinder lernen in gemischt-konfessionellen Schulen. Es ist ein Leichtes, äußerlich die Religionszugehörigkeit eines Kindes zu erkennen: Farben und Symbole der Schuluniform verraten es. Auch bei der Arbeitssuche kann die Religion anhand des Schulnamens auf dem Lebenslauf leicht erraten werden. Religion ist in Nordirland nichts Privates, sondern genauso offensichtlich wie etwa Geschlecht oder Hautfarbe.

Getrennte Schulen, geteilte Meinung

Doch die Abschottung geht weit über Wohnort und Schule hinaus, wie eine Studie des Erziehungswissenschaftlers Paul Connolly von der Queen's University belegt. Katholische und protestantische Kinder haben ganz andere Vorstellungen auch von ihren sozialen, kulturellen und politischen Lebenswelten. So antworteten auf die Frage, welches ihre Hauptstadt sei, 85 Prozent der protestantischen Kinder mit "Belfast", aber nicht einmal halb so viele katholische. Umgekehrt nannten 47 Prozent der Katholiken "Dublin" als ihre Hauptstadt, was nicht einmal vier Prozent der Protestanten teilten. Die eigentliche Hauptstadt der Nordiren - London - wurde von fast keinem der befragten Zehnjährigen genannt.

Die Kinder des Belfaster Abkommens leben in Parallelwelten. Sie spielen andere Sportarten, ihre Eltern lesen andere Zeitungen, und einige von ihnen würden sich mit einem Kind der anderen Religion nicht anfreunden. "Das, was da passiert, ist Segregation (Entmischung)", fasst Connolly seine Ergebnisse zusammen.

Segregation bis in den Tod

Für Alan McBride haben diese Umstände viel mehr Menschen zu Opfern gemacht, als bloß diejenigen, die wie er Angehörige in den Kämpfen verloren haben. "Ich bin für eine möglichst breite Definition des Begriffs Opfer", sagt er. "Durch die Erziehung und die von Gewalt erfüllte Umwelt wurde man in den Konflikt hineingezogen. Man konnte es sich ja nicht aussuchen."

Die Abgrenzung hat sich seit dem Ende der Gewalttaten kaum verringert. In Nordirland gibt es für beide Konfessionen immer noch alles doppelt: Schulen, Krankenhäuser, Ärzte. McBride weiß sogar von getrennten Fußballfeldern im Maghaberry-Gefängnis in Lisburn zu berichten. Auf dem städtischen Friedhof in Belfast werden katholische und protestantische Gräber von einer Mauer getrennt, die auch unterirdisch bis zu zwei Meter tief reicht. Weil man sich über die Religionsangehörigkeit des staatlichen Opferbeauftragten zankte, gibt es jetzt nicht einen, sondern vier. Die überkonfessionelle Alliance Party hat vor einem Jahr errechnet, dass die Segregation den Steuerzahler jährlich weit über 1,5 Milliarden Euro kostet.

Hass äußert sich öffentlich

In Ballymurphy, einem Stadtteil im katholischen Westbelfast, ist der Hass auch im Straßenbild sichtbar. An den Reihenhäusern illustrieren die "murals" (Mauerbemalungen) Ereignisse des Bürgerkriegs, und Terroristen richten ihre Maschinengewehre auf den Betrachter. Von der Elektroleitung, die die beiden Straßenseiten verbindet, baumelt ein Paar Turnschuhe. "Das soll ein Zeichen sein, dass dort ein Drogendealer wohnt", vermutet die Jurastudentin Nayha Sethi. "Die sehe ich in meinem Viertel auch immer."

In der Whitecliff Parade sind die Fassaden zweier Häuser verkohlt. Auf der anderen Straßenseite ist die Häuserreihe von einer Lücke zerrissen, der Sperrzaun wurde niedergetrampelt. An den Giebeln rechts und links dieser Lücke zeugen schwarze Flecken von früheren Rauchwolken. Ein achtjähriger Junge schaut nebenan aus seinem Fenster skeptisch auf die Straße, beobachtet die Passanten. Er zeigt auf das verkohlte Haus gegenüber: "Diese Familie hat jemanden umgebracht, und da wurde ihnen das Haus niedergebrannt", sagt er, als würde er ein Gedicht für seine Lehrerin aufsagen.

Die Narben verheilen nur langsam, und viele werden jetzt erst sichtbar. "Ich wünsche mir, dass unsere Politik wieder langweilig wird", sagt der Kolumnist Alan McBride. "Dass wir über Dinge wie Bildung und Gesundheit reden, über diese Dinge, die man im Fernsehen gar nicht sehen will, sondern einfach wegschaltet. Unsere Politik war jahrzehntelang zu aufgeregt. Krieg, Konflikt, all das macht spannendes Fernsehen." Schlechte Nachrichten und Kolumnen verkaufen sich nun mal besser. Doch McBride würde, wenn er die Wahl hätte, darauf gern verzichten.

Von Petra Sorge, dpa

Quelle: ntv.de

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