Dossier

Stalins Hunger-Terror Eklat zwischen Kiew und Moskau

Die Große Hungersnot von 1932 und 1933 gilt als eines der größten Verbrechen kommunistischer Gewaltherrschaft unter dem Sowjetdiktator Josef Stalin. 75 Jahre danach hat sich ein seit langem schwelender Streit zwischen Russland und der Ukraine um die Bewertung der Tragödie mit mindestens sechs Millionen Toten zu einem Eklat auf höchster Ebene zugespitzt. Kremlchef Dmitri Medwedew lehnte nun im Gegensatz zu Gästen aus 40 Ländern die Einladung von Präsident Viktor Juschtschenko ab, zu den bis zum 22. November dauernden Gedenkfeiern nach Kiew zu reisen. Er wirft Juschtschenko Geschichtsfälschung vor mit dem Ziel, zwischen Russen und Ukrainern Hass zu säen.

Der Konflikt ist das jüngste Beispiel in einer Reihe von Ereignissen, die das ukrainisch-russische Verhältnis belasten. Medwedew hält Juschtschenko in einem Brief vor, die Hungersnot genauso zu instrumentalisieren wie die NATO-Beitrittspläne, die Moskau als Teil einer "aggressiven Außenpolitik" Kiews ebenfalls gegen sich gerichtet sieht. Schon seit einigen Jahren kämpft Kiew um Anerkennung der Hungersnot als "Völkermord". Doch Organisationen wie die Vereinten Nationen und UNESCO lehnten dies bisher ab.

Schönfärberei der Stalinära in Russland

Juschtschenkos Forderung, die Hungersnot (russisch: Golodomor) mit einem "Genozid" gleichzusetzen, kommt zu einer Zeit, in der Experten eine zunehmende Schönfärberei der Stalin-Ära in Russland feststellen, mit der der Diktator nicht als Mörder von Millionen, sondern als effektiver Manager dargestellt wird. Laut einer Umfrage des Moskauer Instituts WZIOM sehen knapp 30 Prozent der Russen Stalin positiv. Und russische Menschenrechtler beklagen, dass es in Russland keine vom Staat gewollte Aufarbeitung dieses Geschichtsabschnittes gibt.

"Der Hunger in den Jahren 1932-1933 in der Sowjetunion war nicht auf die Vernichtung eines Volkes ausgerichtet", betont Medwedew in seinem Schreiben an Juschtschenko. Unter der Not hätten auch Russen, Kasachen und Weißrussen gelitten. Diese "Tragödie" sei die "Folge der Zwangskollektivierung und der Liquidierung des Standes der Großbauern (Kulaken) in der gesamten Sowjetunion" gewesen.

40 Millionen Menschen litten Hunger

In der Ukraine dokumentieren zum 75. Jahrestag des Hunger-Terrors zahlreiche Bücher und Filme Stalins "militaristisch-feudalistische Wirtschaftspolitik". "Leider hat jedes Land in seiner Geschichte schon einmal Hunger erlebt, aber es gibt keine andere Nation, wo der Hunger künstlich herbeigeführt wurde", sagte Juschtschenko bei Einweihung eines Denkmals für die Opfer in Charkow. Erst in den 1980er Jahren wurde auch im Westen das Ausmaß der lange totgeschwiegenen Hungersnot bekannt. Es gilt seither als unstrittig, dass die Kommunisten Krieg gegen die Kulaken führten und der Staat die Lebensmittel ins Ausland verkaufte.

So stellt etwa der französische Historiker Nicolas Werth in dem "Schwarzbuch des Kommunismus" dar, wie Bauern von kommunistischen Schlägertrupps zur Herausgabe des letzten Korns gezwungen wurden. Beim Eintreiben der Zwangsabgaben seien Folter, Deportation, Massenverhaftungen und Todesurteile Alltag gewesen. Insgesamt mehr als 40 Millionen Menschen litten laut Werth damals Hunger. Immer wieder habe es auch Fälle von Kannibalismus gegeben. Für "ethnische Motive" der Hungersnot gebe es aber keine Beweise, betonte unlängst der Leiter des russischen Nationalarchivs, Wladimir Koslow.

Ukrainische Identitätsfindung?

"Wir rechtfertigen die Repressionen des Stalin-Regimes gegen das gesamte sowjetische Volk nicht", schreibt Medwedew weiter. Jedoch sei Juschtschenkos Absicht, "dieser Tragödie einen nationalistischen Anstrich" zu geben, "zynisch und unmoralisch". Immerhin habe die Ukraine als Sowjetrepublik diese Politik mitgetragen, seien die Ukrainer gegen die eigenen "Leute" vorgegangen. Medwedew fordert eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte.

Moskau beklagte zuletzt immer wieder eine wachsende "Russophobie" Juschtschenkos, der die russische Sprache zurückdränge und russisches Fernsehen verbiete. Die Meinung über die Hintergründe dieser Politik gehen auseinander. "Die Ukraine benutzt den Golodomor, um mit der Sowjetunion abzuschließen, sowie zur eigenen Identitätsfindung", erklärt der Chef des Kiewer Instituts für globale Strategien, Wadim Karasjow, in der Moskauer Tageszeitung "Kommersant". Offizielle in Moskau vermuten, Kiew habe es auf Entschädigungszahlungen von dem reicheren Nachbarn Russland abgesehen und wolle überdies von seiner innenpolitischen Dauerkrise ablenken.

Ulf Mauder, dpa

Quelle: ntv.de

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