Familienpolitik in Deutschland Erbe des Kalten Krieges
21.02.2007, 14:08 UhrDie Familienpolitik in Deutschland kommt nur langsam in Bewegung. 2004 ließ das von der damaligen Familienministerin Renate Schmidt (SPD) durchgesetzte Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) die Zahl der Krippenplätze in Westdeutschland leicht steigen. Doch noch immer gibt es nur für zehn Prozent der unter Dreijährigen Betreuungsangebote. Schmidts CDU-Nachfolgerin Ursula von der Leyen geht der Ausbau nicht schnell genug, konservative Politiker sehen dagegen mit jedem neuen Krippenplatz das Abendland untergehen. - Fragen an die Sozialwissenschaftlerin Mechthild Veil.
Frau Veil, Familien- und Kinderpolitik ist in Deutschland ein vermintes Feld. Andere Länder haben ein sehr viel entspannteres Verhältnis etwa zur Frage der Kinderbetreuung. Woran liegt das?
Das Wort "entspannt" ist sehr richtig. Andere Länder machen eine Familienpolitik, die sich an den Bedürfnissen der Familien orientiert und deutlich weniger ideologisch und normativ ausgerichtet ist als in Deutschland.
Sie haben die deutsche Kinder- und Familienpolitik in mehreren Artikeln als Erbe der Nachkriegszeit und des Kalten Kriegs beschrieben.
Das gilt vor allem für Westdeutschland. Hier hat die Familienpolitik noch heute mit zwei Abgrenzungsbewegungen zu tun. Die erste Abgrenzungsbewegung richtete sich gegen den faschistischen Staat, der in die Familien hineinregiert hat, zum Beispiel mit staatlichen Darlehen, die man "abkindern" konnte. Die zweite Abgrenzungsbewegung richtete sich gegen das sozialistische Modell der DDR, das ebenfalls von einer starken Rolle des Staates in der Familienpolitik geprägt war, aber auch vom Modell der erwerbstätigen Mutter, für die der Staat Kinderkrippen und Kindergärten bereitstellte.
Mit dem Kindergeld regierte doch auch der westdeutsche Staat in die Familie hinein.
Das Kindergeld wurde erst spät eingeführt, 1954, und zunächst nur ab dem dritten Kind. Die Regierung Adenauer war zwar familienfreundlich, zeigte aber eine unglaubliche Zurückhaltung gegenüber staatlichen Hilfen für Familien. Es wurde nicht als Problem angesehen, dass Familien nur wenig unterstützt wurden. Es gibt den berühmten Ausspruch Adenauers: "Kinder bekommen die Menschen immer."
Aber die DDR ist schon seit 17 Jahren Geschichte. Warum ist es für Konservative immer noch so schwer, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass auch Mütter arbeiten gehen?
Ja, das ist erstaunlich. Mit der Wiedervereinigung gab es die Chance, die Ganztagsbetreuung der DDR auch im Westen zumindest formal zu übernehmen. Von Franzosen werde ich oft gefragt, warum das nicht passiert ist. Die verstehen das gar nicht. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass die DDR beim Fall der Mauer der Verlierer war. Man übernimmt nicht gerne Konzepte von Verlierern. Erst heute sind wir in einer Phase, wo man ungezwungener auf die DDR hinweisen kann.
Aber gibt es in Westdeutschland überhaupt einen so starken Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen?
In Westdeutschland ist die Meinung in der Bevölkerung und bei den Frauen gespalten. Ich habe früher Kurse für Frauen zur Wiedereingliederung ins Berufsleben gegeben und habe am Anfang immer gefragt, ob die Frauen sich wieder so entscheiden würden, also aus dem Beruf aussteigen und sich ein paar Jahre um die Kinder kümmern. Die Antworten waren immer sehr unterschiedlich. Doch heute wollen Frauen auch in Westdeutschland zunehmend Kinder und Beruf verbinden, und dafür fordern sie staatliche Hilfen und Kinderkrippen. Zugleich gibt es einen großen Teil westdeutscher Frauen, die sich bewusst dafür entscheiden, für zwei bis drei Jahre aus dem Berufsleben auszusteigen.
Das heißt, Deutschland ist bei der "Kinderbetreuungsmentalität" nicht nur in Ost und West gespalten?
Das stimmt. Vor allem in Westdeutschland gibt es kulturelle Positionen, die nur wenig kohärent sind. Ich weiß nicht, inwieweit christliche Einstellungen noch eine Rolle spielen, die sehr stark das deutsche Mutterbild geprägt haben. Dazu gehört, dass die Frau für das Wohl des Kindes "Opfer" zu bringen hat. Das ist eine Haltung, die man in Frankreich überhaupt nicht antrifft. Hinzu kommt noch eine "moderne" Sorge um das Kind, die in den Medien breiten Raum einnimmt: Schon im Windelalter sollen Kinder optimal gefördert werden. An Mütter und Väter werden damit unglaublich hohe Anforderungen gestellt.
Wie ist denn die Rolle der Väter in Deutschland?
Väter sind leider noch nicht so gut erforscht, das ist erst seit kurzem im Kommen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat herausgefunden, dass Männer beim Kinderwunsch sehr zurückhaltend sind, stärker noch als Frauen. Das liegt unter anderem an diesem rückständigen westdeutschen Familienbild, wo der Vater nur Ernährer ist und die Frau sich um die Familie kümmert. Viele Männer wollen das nicht mehr und schrecken vielleicht auch vor der Belastung zurück.
Frankreich wird in der Familienpolitik immer als Vorbild genannt. Was ist dort anders?
Auch in Frankreich herrschte in den 1960er Jahren noch das Bild von der Hausfrau und Mutter vor. Das hat sich in kurzer Zeit vollkommen geändert. Motor der Veränderungen waren die Frauen. Wie in Deutschland gab es in Frankreich die große Bildungsoffensive der Frauen. In beiden Ländern drängten gut ausgebildete Frauen auf den Arbeitsmarkt. Aber in Frankreich gab es bereits die Infrastruktur für staatliche Kinderbetreuung. Frauen konnten also sowohl Mutter als auch berufstätig sein. Der Staat in Frankreich stellt Geld für die Kinderbetreuung zur Verfügung, verhält sich ansonsten aber neutral gegenüber der Entscheidung von Eltern für Beruf oder Familie. Für die Französinnen war es damit leichter, Familienleben an Erwerbsarbeit anzupassen, als in Deutschland, wo der Staat die traditionellen Familienrollen materiell absichert.
Zum Beispiel beim Ehegattensplitting.
Das Ehegattensplitting sorgt dafür, dass eine Berufstätigkeit der Frau sich häufig quasi nicht rechnet. Wenn aber die Frau so viel verdient wie der Mann, entfällt die staatliche Subventionierung von Ehe und Familie. Meiner Meinung nach ist das Ehegattensplitting das Instrument, das eine Modernisierung des Familienrechts in Deutschland am stärksten erschwert. Deutschland hat zudem ein ausgeprägtes Unterhaltsrecht, das die verheiratete Frau absichert, Deutschland hat die beitragsfreie Mitversicherung der Ehefrau in der Krankenversicherung, Deutschland hat eine im EU-Vergleich sehr großzügige Witwenrente, die jetzt allerdings zurückgefahren wird. All diese materiellen Absicherungen haben dafür gesorgt, das traditionelle Familienmodell in Deutschland zu erhalten.
Da ist es doch überraschend, dass die Frauenerwerbsquote in Deutschland in etwa so hoch ist wie in Frankreich.
Interessant sind hier aber die Erwerbsquoten von Müttern, und da liegt Frankreich wesentlich höher als Deutschland. In Frankreich gibt es bei der Müttererwerbstätigkeit eigentlich erst nach dem dritten Kind einen Rückgang der Erwerbsbeteiligung. Da liegt der große Unterschied. Noch interessanter ist der Unterschied der Berufsbeteiligung von Vätern und Müttern. Im internationalen Vergleich ist die Spanne bei uns mit am größten. Frauen steigen aus dem Beruf aus, wenn sie Mütter werden, oder sie arbeiten weniger. Männer dagegen arbeiten nicht weniger, wenn sie Väter werden, sondern mehr. In Frankreich ist diese Diskrepanz deutlich niedriger.
Zum Schluss: Wie beurteilen Sie die aktuelle Debatte über Familienpolitik in Deutschland?
Die Debatte spiegelt vor allem die unterschiedlichen westdeutschen Positionen wider. Was erstaunlich ist: Die Bundesfamilienministerin bekommt bei ihren Vorstößen viel Unterstützung aus der Wirtschaft. Die Arbeitgeber sind in Deutschland mittlerweile der Motor für eine Modernisierung der Familienpolitik. Sie wollen gut qualifizierte Frauen halten, sie wollen, dass diese kontinuierlich weiterarbeiten können. Die Arbeitgeber fordern daher Betreuungsplätze und richten sie zum Teil sogar selbst ein.
(Die Fragen stellte Hubertus Volmer)
Dr. Mechthild Veil ist selbstständige Sozialwissenschaftlerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift "Feministische Studien". Ein Schwerpunkt ihres 1998 gegründeten Büros für Sozialpolitik in Europa ist die Familienpolitik im deutsch-französischen Vergleich (www.sozialpolitikvergleich.de).
Quelle: ntv.de