Zwischen Armee und Taliban Flüchtlinge in Pakistan
08.05.2009, 15:46 UhrSaid Quraish schlägt mit dem Hammer die letzten Haken für sein Zelt in den Boden. Er zittert vor Müdigkeit und Wut: "Am liebsten würde ich ein Gewehr nehmen und Taliban und Armee gleichermaßen bekämpfen", sagt er. Wie Zehntausende aus dem Nordwesten Pakistans sind der 55-jährige Viehbauer und seine Familie vor der Offensive der pakistanischen Armee gegen die radikalislamischen Aufständischen geflüchtet. Die meisten sind entsetzt über die Rücksichtslosigkeit, mit der beide Seiten ihre Ziele verfolgen. Wütend aber sind sie vor allem über das Militär.
Gerade hatte Quraishs Frau das Essen serviert, als die Armee mit der Bombardierung seines Dorfs im Bezirk Buner begann. Er sah, wie die Nachbarhäuser zusammenfielen und begriff, dass ihm und seiner Familie keine Zeit mehr bleiben würde zum Essen. Jetzt sitzt er in einem von der Regierung eingerichteten Auffanglager im Nachbarbezirk Swabi. Quraish, dessen Runzeln und weißer Bart davon zeugen, dass er kein leichtes Leben hat, ist fassungslos: "Das waren keine gezielten Angriffe gegen die Taliban", erzählt er. "Viele Zivilisten wurden getroffen".
Zielscheibe beider Seiten
Jeden Tag strömen hunderte Menschen in das Zeltlager nahe des Dorfs Chota Lahore am äußersten Rand der Provinz North West Frontier (NWFP). Die meisten stammen wie Quraish aus Buner. Dort begann die Armee Ende April ihre Offensive, um den Vormarsch der Taliban zu stoppen: Der im Februar geschlossene Friedenspakt mit den Aufständischen, der ihnen die Einführung der Scharia im Swat-Tal erlaubte, war endgültig gescheitert, mehr und mehr drangen die Islamisten in die benachbarten Bezirke Buner und Lower Dir vor - Gebiete, die nur noch rund 100 Kilometer von Islamabad entfernt sind.
Im Gegensatz zu den Stammesgebieten, der unwegsamen Hochburg von Taliban und El Kaida an der Grenze zu Afghanistan, sind das Swat-Tal und seine Umgebung dicht besiedelt. Mehr als drei Millionen Menschen leben hier. Das erschwert die Offensive der Armee, zumal die Taliban oftmals in den Dörfern Schutz suchen. Die Regierung rechnet mit rund einer halben Million Flüchtlingen. Diese geraten immer wieder zwischen alle Fronten: Die Ausgangssperre erschwert ihnen den Aufbruch in sicherere Gebiete, unterwegs werden sie zur Zielscheibe beider Seiten.
Radikalversion der Scharia
"Wir sind wütend. Wir hatten Angst - dass die Angriffe der Regierung uns töten werden, unsere Kinder, Mütter, Verwandte", sagt Amir Zada. Nachdenklich sitzt der 35-jährige Lehrer auf dem Teppich seines engen Zelts, Fliegen umschwirren ihn. "Wir sind gar nicht gegen die Offensive", sagt er dann. "Wir wollen nur nicht, dass unsere Häuser zerstört werden, unser Hab und Gut, dass unsere Kinder umkommen."
Wie Zada wollte auch Roshan Zari, dass die Armee die Taliban aus dem Swat-Tal vertreibt. Diese hatten gleich nach dem Friedensschluss mit Islamabad begonnen, ihre Radikalversion der Scharia durchzusetzen. "Zunächst verbannten sie die Musik, dann bestraften sie alle, die sich dem Verbot widersetzten", erzählt die junge Mutter. "Frauen wurden ausgepeitscht, weil sie keine Burkas trugen".
Doch ihre Erlebnisse auf der Flucht ließen die Stimmung umschlagen. "Auf unserem Weg sahen wir unzählige bombardierte Wagen. Wir sahen Leichen am Straßenrand - das waren vielleicht bis zu hundert Menschen, auch Kinder." Ein Neuankömmling berichtet, wie ohne Vorwarnung die Angriffe auf sein Dorf begannen: "Allein in meiner Straße wurden sechs Häuser bombardiert".
Niemand weiß, wann die Flüchtlinge zurückkehren können. Sie selbst befürchten, dass ihre Opfer vergeblich sein werden - und die Taliban einfach wieder aus ihren Verstecken hervorkommen werden, sobald die Offensive vorüber ist. Die 18-jährige Rajmala spricht vielen von ihnen aus der Seele: "Das ist kein Leben", sagte sie, während sie sich die Augen mit ihrem zerrissenen Schal reibt. "Wir haben Angst vor den Taliban und der Armee. Sollen sie doch kämpfen. Aber uns sollen sie in Ruhe lassen - und uns da nicht hineinziehen."
Quelle: ntv.de, Charlotte McDonald-Gibson, AFP