Zuflucht beim Erzfeind Illegale Armenier in Istanbul
08.10.2009, 08:23 Uhr
Die Türkei und Armenien wollen Regierungsabkommen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen unterzeichnen.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Als Sveta vor sieben Jahren nach Istanbul kam und Arbeit in einer Schuhfabrik fand, war sie nicht nur die einzige Frau unter 40 männlichen Kollegen - sie war auch die einzige Armenierin unter lauter Türken. Sie hatte Angst, berichtet Sveta heute. "Aber sie behandelten mich wie ihre große Schwester. Kein einziges böses Wort habe ich gehört."
Sveta gehört zu den schätzungsweise 20.000 armenischen Migranten in der türkischen Metropole, die illegal ins Land gekommen sind. Unter dem Eindruck von Armut und Arbeitslosigkeit in ihrer Heimat suchte sie damals Zuflucht ausgerechnet beim traditionellen Erzfeind Türkei. Jetzt setzen die Armenier große Hoffnungen in die Annäherung zwischen den beiden Ländern, die am kommenden Samstag mit der Unterzeichnung von Regierungsabkommen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Öffnung der seit den 90er Jahren geschlossenen Grenze besiegelt werden soll. Kommende Woche wird der armenische Präsident Serge Sarkisjan in der Türkei erwartet.
Beschwerliche Busreise
Armenier wie die 55-jährige Sveta können wegen der geschlossenen Grenze nicht direkt von Eriwan in die Türkei reisen; ein Ticket für die seit einigen Jahren bestehende Charterflug-Verbindung zwischen beiden Ländern können sie sich nicht leisten. Also bleibt nur die beschwerliche Busroute über Georgien: 35 Stunden dauert die Reise. In Istanbul fühlen sie sich ein wenig zu Hause, hat Fabio Solomoni, ein italienischer Soziologe an der privaten Koc-Universität, beobachtet: Die alteingesessene armenische Minderheit von rund 70.000 Menschen mit ihren Kirchen gibt den Neuankömmlingen Halt.
Mit einem Visum, das lediglich für einen Monat gültig ist, kommen die meisten Armenier nach Istanbul. Nach Ablauf der Frist tauchen sie unter, und die türkischen Behörden lassen sie meistens in Ruhe - anders als etwa die Polizei in Russland, dem Hauptziel armenischer Wirtschaftsflüchtlinge. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat diese Duldung in den vergangenen Jahren mehrmals als Beispiel für die Bereitschaft seines Landes herangezogen, sich mit dem Nachbarn Armenien zu vertragen.
Keine einfache Annäherung
Einfach ist diese Annäherung für beide Seiten nicht. Vor fast hundert Jahren wurden im untergehenden Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen armenische Bürger dieses Reiches von Türken und Kurden ermordet. Den ersten Völkermord der modernen Geschichte nennen die Armenier die blutigen Ereignisse des Jahres 1915, die mit der Vertreibung der Istanbuler Armenier begannen. Auch viele internationale Experten sind der Meinung, dass die damalige osmanische Regierung die Armenier loswerden wollte.
Die Türkei steht dagegen auf dem Standpunkt, dass die meisten Armenier bei einer kriegsbedingten Umsiedlungsaktion dem Hunger und Krankheiten zum Opfer fielen und dass zudem auch zehntausende türkische Osmanen von armenischen Rebellen niedergemetzelt wurden.
Bescheidene Träume
Die Erinnerung an die Grausamkeiten ist bei allen Armeniern präsent, auch bei den illegalen Migranten von Istanbul. "Wir werden es niemals vergessen können", sagt Suzan, die als Lehrerin von Kindern anderer armenischer Migranten am Bosporus umgerechnet rund 240 Euro im Monat verdient - viel mehr als in der Heimat, wo sie mit umgerechnet 35 Euro auskommen musste.
Suzan gibt zu, dass ihre Verwandten daheim in Armenien es nicht gerne sehen, dass sie ausgerechnet in der Türkei ihr Geld verdient. "Das macht mich noch trauriger", sagt sie. Von einer Annäherung zwischen der Türkei und Armenien erhoffen sich Suzan und andere Armenier in vergleichbarer Lage ein wenig Entlastung. Suzan wünscht sich ein "besseres Leben" ohne die ständige Angst davor, dass die türkische Polizei eines Tages ihre nachsichtige Haltung aufgeben könnte.
Eine eigene kleine Firma, die vom Austausch zwischen der Türkei und Armenien über die möglicherweise bald offene Grenze hinweg leben könnte - so stellt sich Suzan das vollkommene Glück vor. Die Träume der illegalen Armenier von Istanbul sind bescheiden, wirken aber angesichts der schmerzhaften Geschichte beider Länder immer noch verwegen. Und zum ersten Mal seit fast hundert Jahren könnten sie bald sogar in Erfüllung gehen.
Quelle: ntv.de, Nicolas Cheviron, AFP