Im Schatten der Riesenwelle Im Tsunami untergetaucht
22.04.2005, 09:01 UhrDie Flutkatastrophe in Südostasien mit etwa 300.000 Todesopfern hat mit all ihren Schrecken auch die Fantasie der Menschen angeregt. Sie erscheint vielen im Nachhinein als ideale Möglichkeit für Desperados aller Art, im Schatten der Riesenwelle für immer zu verschwinden und ein neues Leben zu beginnen: unbelastet von zerrütteten Beziehungen, Schulden und Unterhaltspflichten, am besten noch ausgestattet mit dem Geld aus einer fetten Lebensversicherung. Doch Experten warnen vor einer Überdramatisierung. Bestenfalls eine Hand voll Deutsche könnte ihrer Einschätzung nach den Tsunami genutzt haben, um eine neue Identität zu erlangen.
"An nahezu jedem Urlaubsort tummeln sich Leute, die zu Hause Probleme haben", sagt etwa der Privatdetektiv Manfred Lotze von der Düsseldorfer Detektei Kocks. Die von einem Seebeben ausgelöste Riesenwelle könnte diesen Leuten schon als "ideale Gelegenheit" zum Verschwinden erschienen sein. Beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden, das mit seiner Identifizierungskommission wichtige Arbeit vor Ort geleistet hat, will man nicht von vornherein ausschließen, dass unter den rund 140 noch vermissten Bundesbürgern einige vorgetäuschte Fälle sind. "Wir müssen es zumindest in Betracht ziehen. Konkrete Anhaltspunkte liegen uns aber nicht vor", sagt BKA-Sprecher Kai Küllmer.
Aus Ermittlerkreisen ist hingegen zu hören, dass es mindestens zwei fragwürdige Fälle gebe. Den Zielfahndern stehen bei der Suche nach abgetauchten Kriminellen eine Vielzahl von Mitteln zur Verfügung. Sie konzentrieren sich vor allem auf die elektronischen Spuren der Verschwundenen und kontrollieren deren privates und geschäftliches Umfeld. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist stets auch die Krankengeschichte, denn die kann niemand einfach so ablegen.
Allein das Überraschungsmoment macht es Fluchtwilligen schwer, selbst wenn sie nicht von der Polizei gejagt werden. "Das sind ja ganz normale Menschen. Die hatten keine Zeit zur Planung, zum sicheren Abschluss ihres bisherigen Lebens", meint Jürgen Jaitner von der Wiesbadener Detektei Espo, der unter anderem den Reemtsma-Entführer Thomas Drach aufgespürt hat. Eigentlich benötige man einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren, um den endgültigen Ausstieg aus der bisherigen Identität vorzubereiten. Meistens würden die psychologischen Folgen eines kompletten Schnitts im Privatleben unterschätzt, meint Jaitner. "Irgendwann nehmen die Kontakt zu jemandem aus ihrem früheren Leben auf."
"Es ist gar nicht so einfach, sich aus seinem alten Leben hinaus zu schleichen", sagt auch Eckhard Marten vom großen Versicherer Allianz Leben in Stuttgart. Dort weiß man bislang von 44 Tsunami-Opfern, die zusammen 77 Renten-und Risikolebens-Policen hatten. Weit mehr als die Hälfte der Ansprüche sei bereits ausgezahlt worden, wobei die Durchschnittssumme mit gut 20.000 Euro deutlich niedriger liege als gemeinhin angenommen. Ein übergroßes Misstrauen lege man bei der Auszahlung nicht an den Tag, da das Betrugsrisiko als sehr gering eingeschätzt werde, erklärt Marten. Das Geld werde daher schon ausgezahlt, bevor die amtliche Sterbeurkunde vorliegt, die es selbst im Falle einer so genannten Gefahrenverschollenheit frühestens ein Jahr nach dem Unglück geben kann.
von Christian Ebner, dpa
Quelle: ntv.de