Wann ist ein Staat ein Staat? Karlsruhe prüft EU-Vertrag
10.02.2009, 17:27 UhrDer Vertragstext als "unlesbares Monstrum", die EU-Kommission als "Hydra", Brüssel als "Gewaltenkonglomerat": Die Kläger griffen vor dem Bundesverfassungsgericht zu bombastischen Vokabeln, um den Zweiten Senat von der Verfassungswidrigkeit des EU-Reformvertrags von Lissabon zu überzeugen. Die Karlsruher Richter drückten sich ungleich feiner aus - doch in der Sache war ihre Skepsis nicht zu überhören.
Das klang dann zum Beispiel so: "Ist der Gedanke des 'Immer mehr' in der Tendenz nicht freiheitsgefährdend?", merkte Udo Di Fabio an, der das Mammutverfahren vorbereitet hat und den Urteilstext formulieren wird. Soll heißen: Droht nicht auch eine Einschränkung der Grundrechte, wenn sich in Brüssel immer mehr Macht konzentriert?
Dass dies so ist, darin war sich die bunte Klägerschar weitgehend einig, die gegen den im Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrag nach Karlsruhe gezogen ist. Darunter ist der notorische EU-Kritiker Peter Gauweiler (CSU), dann die Linksfraktion mit ihrem Chef Oskar Lafontaine, aber auch eine illustre Gruppe um den ehemaligen CSU-Europaparlamentarier Franz Ludwig Graf von Stauffenberg - Sohn des Hitler-Attentäters - und den Ex-Thyssen-Chef Dieter Spethmann.
Sündenfall Lissabon
Aus ihrer Sicht ist der Vertrag von Lissabon der Sündenfall. Die Zentralgewalt der EU werde gestärkt, die Demokratie geschwächt und die staatliche Souveränität Deutschlands damit ausgehöhlt. So sehr, dass Deutschland letztlich das Attribut "Staat" nicht mehr verdiene - weil längst in Brüssel regiert werde. "Der Vertrag von Lissabon vergrößert das notorische Demokratiedefizit der EU", kritisierte Gauweilers juristischer Vertreter Dietrich Murswiek.
Zwar glich der Streit um den Stellenwert der Demokratie in Europa am Dienstag eher einem Glaubenskrieg. Während die Kläger die Parlamente in Brüssel in der Statistenrolle sehen, beharrten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in großkoalitionärer Einhelligkeit darauf, dass "Lissabon" die Demokratie sogar stärke: Die nationalen Parlamente würden aufgewertet, auch das EU-Parlament werde eine größere Rolle in der Brüsseler Gesetzgebung spielen.
Doch bei der Frage "Staat oder nicht Staat?" könnte womöglich ein weiteres Thema im Zentrum stehen - das Strafrecht. Schon jetzt hat die EU etwa beim Umweltstrafrecht manche Zuständigkeit an sich gezogen, die bei zurückhaltender Lesart des EU-Rechts eher bei den Mitgliedsstaaten angesiedelt gewesen wäre. Eher rhetorisch klang denn auch die Frage des Richters Rudolf Mellinghoff, ob der Vertrag hier nicht "in extensiver Weise" interpretiert worden sei.
Höchstrichterliche Skepsis
Der Beleg für die höchstrichterliche Skepsis wurde just am selben Tag aus Luxemburg geliefert. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilte über die EU-Richtlinie zur massenhaften Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten - und entschied, dass Brüssel dafür zuständig war. Eine durchaus umstrittene Interpretation der EU-Zuständigkeiten: Obwohl naheliegend, siedelte Brüssel die Speicherpflicht nicht etwa unter dem Dach der Terrorismusbekämpfung an - denn dafür wäre ein einstimmiger Rahmenbeschluss nötig gewesen. Vielmehr wurde die Richtlinie als Maßnahme für den Binnenmarkt verkauft - dafür reicht eine Mehrheitsentscheidung im Rat.
Diese Tendenz, das Europa auch ins Strafrecht eingreift, dürfte sich nach dem neuen Vertragswerk noch verstärken. Herbert Landau, der einzige gelernte Strafrechtler im Zweiten Senat, erinnerte daran, dass das Strafrecht wegen seiner mitunter gravierenden Auswirkungen auf Betroffene zum "Kernbereich" eines Staates gehöre. "Das sind doch Fragen, die die Wertegemeinschaft eines Volkes betreffen" - Fragen also, die in öffentlicher Diskussion in den Parlamenten und in den Medien entschieden werden müssten. Müsste die EU da nicht - fragte Landau - besonders zurückhaltend mit Eingriffen in nationale Zuständigkeiten sein?
Sollte der achtköpfige Senat tatsächlich sein Veto gegen den Vertrag einlegen - wäre das große europäische Integrationsprojekt damit auf absehbare Zeit gestoppt? Bundespräsident Horst Köhler hat seine Unterschrift unter den Vertrag mit Rücksicht auf Karlsruhe vorerst zurückgestellt. Doch so weit werde das Gericht wohl nicht gehen, meinten Verfahrensbeteiligte am Rande der Verhandlung. Für wahrscheinlicher hielt man Vorgaben an den Bundestag, im deutschen Umsetzungsgesetz zu "Lissabon" einige Korrekturen anzubringen.
Quelle: ntv.de, Wolfgang Janisch, dpa