Mal hinter und mal gegen Röttgen Mit Merkel ist alles möglich
26.02.2010, 11:30 UhrDie Union streitet über die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke. Bundeskanzlerin Merkel hat eine Festlegung bislang vermieden - mal stellt sie sich hinter ihren Umweltminister, mal pfeift sie ihn zurück. Die Energiekonzerne retten derweil die alten Reaktoren Neckarwestheim I und Biblis A über die Zeit.
Im Koalitionsvertrag heißt es: "Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann." In der Koalition, sogar innerhalb der Union ist allerdings umstritten, wie dieser Satz zu interpretieren ist. Eine Chronologie:
4. Februar: In einer Vorabmeldung zitiert der Bonner "General-Anzeiger" Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) mit den Worten: "In dem Augenblick, indem wir 40 Prozent Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion in Deutschland haben, gibt es keine Notwendigkeit mehr für Kernenergie." Als Zielmarke für das Jahr 2020 nennt Röttgen einen Öko-Stromanteil von 30 Prozent.
Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) erklärt daraufhin, eine Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke sei überflüssig, weil Deutschland im Jahr 2020 einen Öko-Stromanteil von 47 Prozent haben werde.
6. Februar: In der "Süddeutschen Zeitung" erscheint ein weiteres Röttgen-Interview. Darin sagt der Umweltminister, die Union müsse sich "gut überlegen, ob sie gerade die Kernenergie zu einem Alleinstellungsmerkmal machen will". Die gesellschaftlichen Widerstände gegen die Atomkraft seien zu groß. "Kernenergie hat auch nach 40 Jahren keine hinreichende Akzeptanz in der Bevölkerung."
7. Februar: Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs erwidert in der "Welt am Sonntag", sichere Kernkraftwerke könnten weiterlaufen, und zwar nicht nur 40 Jahre, sondern 60 Jahre oder noch länger. Windräder sind für Fuchs "Vogelschredderanlagen", Photovoltaik bezeichnet er als "Subventionsgräber".
11. Februar: Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) stellt sich hinter Röttgen. "Dabei geht es nicht um Parteipolitik, sondern um eine möglichst breite Akzeptanz in der Bevölkerung", so Rüttgers. In Nordrhein-Westfalen finden am 9. Mai Landtagswahlen statt. Angesichts schwacher Umfragen für die bisherige schwarz-gelbe Koalition wird in NRW über die Möglichkeit eines schwarz-grünen Bündnisses spekuliert.
13. Februar: "Die Kernkraftwerke sind auf 40 Jahre ausgelegt. Nicht auf 60, sondern auf 40 Jahre. Wenn man darüber hinausgehen würde, wäre das eine Zäsur. Das erfordert eine ganz neue sicherheitstechnische Bewertung", sagt Röttgen der "Süddeutschen Zeitung". Aus seinem Ministerium heißt es später, der Minister habe sich nicht auf eine Verlängerung um acht auf 40 Jahre AKW-Laufzeiten konkret festgelegt.
15. Februar: Nach scharfen Attacken aus der FDP sowie aus den unionsregierten Ländern Hessen, Bayern und Baden-Württemberg gegen Röttgen sagt CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, dass es bei der Vorstellung der Kernenergie als "Brücke" ins Zeitalter der Öko-Energien bleibe - "dass wir insofern auch bereit sind zu Laufzeitverlängerungen".
Regierungssprecher Ulrich Wilhelm sagt, Röttgen sehe die Kernenergie entsprechend dem Koalitionsvertrag als eine Brückentechnologie. Sie werde solange genutzt, "bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann".
21. Februar: Wilhelm nennt alle Vorfestlegungen verfrüht. Damit geht Merkel auf Distanz zu Röttgen. Es gebe eine klare Vereinbarung in der Koalition, nach der das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium gemeinsam Szenarien zur Energieversorgung erstellen würden, sagt Wilhelm der "Welt am Sonntag". Auf dieser Grundlage werde im Herbst entscheiden, wie lange die Atomenergie als Brückentechnologie noch gebraucht werde.
Röttgen sagt der "Frankfurter Rundschau", im Koalitionsvertrag sei die Atomkraft als Brückentechnologie aufgeführt, "bis die erneuerbaren Energien die Versorgung verlässlich und preislich wettbewerbsfähig übernehmen". Selbst nach den skeptischsten Annahmen sei dies im Jahr 2030 der Fall.
Laut "Spiegel" werden im Umweltministerium Pläne ausarbeitet, in den nächsten Jahren 7 der 17 Kraftwerksblöcke vom Netz zu nehmen. Ein Ministeriumssprecher sagt dazu, es gebe keinerlei Vorfestlegungen zu den Laufzeiten von Kernkraftwerken. Darüber werde erst im Rahmen des Energiekonzeptes entschieden.
Um die im Frühjahr eigentlich anstehende Abschaltung der ältesten Meiler Biblis A und Neckarwestheim I zu verhindern, haben die großen Energieunternehmen dem "Spiegel" zufolge inzwischen Verhandlungen aufgenommen.
22. Februar: In einer Vorstandssitzung der CDU wird Röttgen scharf kritisiert. Öffentlich stellt sich Merkel hinter ihren Umweltminister. "Es gibt volle Übereinstimmung in der Frage der Einhaltung des vereinbarten Vorgehens. Auch der Bundesumweltminister (hat) keine Vorwegfestlegungen getroffen", sagt Regierungssprecher Wilhelm.
Inhaltlich widerspricht Wilhelm Röttgen jedoch: Man dürfe nicht nur erneuerbare Energien und Kernenergie betrachten. "Es wird darum gehen, alle Energieträger am Ende in den Blick zu nehmen", sagt Wilhelm unter Hinweis auf das für Herbst angepeilte Energiekonzept. Im Rahmen dieses Konzeptes müssten natürlich auch Kohle- und Gaskraftwerke eingeschlossen werden. "Und auf dieser Grundlage der Betrachtung aller Energieträger des Energiemixes muss dann auch die Entscheidung über die Brückentechnologie fallen." Das sei "Beschlusslage der Koalition". Die Kanzlerin erwarte, dass sich alle Kabinettsmitglieder an die vereinbarten Abläufe hielten.
23. Februar: Die Unionsfraktion erklärt, Biblis A und Neckarwestheim I sollen vorerst am Netz bleiben. In dieser Frage sollten keine Fakten geschaffen werden, bevor allgemein im Herbst über eine Verlängerung der Atommeiler-Laufzeiten entschieden werde, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Altmaier (CDU). Nach dem geltenden Atomgesetz steht bei Neckarwestheim I voraussichtlich im Frühsommer und bei Biblis A im Herbst die Abschaltung an. Nach Auffassung der Branche und der Bundesregierung können diese Reaktoren weiter betrieben werden, wenn auf sie noch bestehende Erzeugungs-Restmengen aus dem vom Betreiber Eon stillgelegten Meiler Stade übertragen werden.
Am Nachmittag distanziert Merkel sich in der Unionsfraktion von Röttgens Äußerungen. Merkel habe klargestellt, "dass wir im Interesse von Wirtschaftlichkeit, Verlässlichkeit und Klimaverträglichkeit Kernenergie auf noch unbestimmte Zeit brauchen", sagt der CSU-Energiepolitiker Georg Nüsslein. Damit habe Merkel "von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht".
25. Februar: In einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verteidigt Merkel Röttgen. Dass Minister wegen ihrer Verantwortung in den Ressorts unterschiedliche Akzente setzten, sei selbstverständlich. Sie halte "den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nach wie vor für verantwortbar". Deutschland werde über das Jahr 2020 hinaus Atomkraft brauchen. Weil aber der Anteil erneuerbarer Energien "in unglaublicher Weise" ansteige, was zeige, "wie positiv die Förderung regenerativer Energien" sei, halte sie heute "das Ersetzen der Atomkraft" für "viel realistischer" als zu ihrer Zeit als Bundesumweltministerin.
Der Stromkonzern EnBW teilt mit, er habe die Leistung des Atomkraftwerks Neckarwestheim I gedrosselt. Damit will das Unternehmen den Reaktor solange am Netz halten, bis die Bundesregierung ihr Energiekonzept vorlegt.
26. Februar: Laut "Bild"-Zeitung heißt es in einem Positionspapier der Unionsfraktion, ein Atomausstieg bis 2030 sei "nicht verantwortbar". In dem achtseitigen Papier werde eine rasche Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke gefordert. Die 17 bestehenden AKW müssten "bis auf Weiteres" am Netz bleiben. Das Papier wurde dem Blatt zufolge von Fraktionsvize Fuchs ausgearbeitet.
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Hubertus Volmer