Dossier

Vorreiter 1989 Polen fordert mehr Respekt

Das deutsch-polnische Geschichtsjahr 2009 sollte Polen und Deutsche trotz unterschiedlicher historischer Erfahrungen näher bringen. Doch der 20. Jahrestag der friedlichen Revolutionen in Mitteleuropa birgt außer Chancen auch Konfliktstoff.

Das deutsch-polnische Geschichtsjahr 2009 sollte Polen und Deutsche trotz unterschiedlicher historischer Erfahrungen näher bringen. Doch der 20. Jahrestag der friedlichen Revolutionen in Mitteleuropa birgt außer Chancen auch Konfliktstoff. Vor den Jubiläumsfeierlichkeiten zum europäischen "Völkerherbst" fühlt sich Polen nicht ernst genommen und fordert mit Nachdruck mehr Respekt für seine Vorreiterrolle beim Sturz des Kommunismus. Im Streit um das beste Symbol des Umbruchs - den Runden Tisch und die Parlamentswahl in Polen versus Mauerfall - sieht Warschau in Berlin einen Konkurrenten.

"Es begann in Polen, aber viele, auch in Deutschland, wissen es leider nicht", klagte bereits vor Monaten Polens Kulturminister Bogdan Zdrojewski und brachte Polens Ängste auf den Punkt. "Die Berliner Mauer wird der Welt den Blick auf den (polnischen) Runden Tisch verdecken", sorgte sich die Zeitung "Polska". Anfang dieser Woche erhielt Polen einen Beweis für die - wie Warschau es sieht - "Ignoranz" der Europäer und schlug Alarm.

Demonstration im Wallfahrtsort Tschenstochau am 18. September 1988.

Demonstration im Wallfahrtsort Tschenstochau am 18. September 1988.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Ein Video der EU brachte Medien und Politiker an der Weichsel auf die Barrikaden. In dem Drei-Minuten-Film "20 Years of Liberty" war zwar viel über den Mauerfall die Rede, aber zunächst wurde die erste unabhängige Gewerkschaft des Ostblocks - die Solidarnosc - mit keinem Wort erwähnt. Als "dummen Vorfall" kritisierte der polnische Regierungschef Donald Tusk diese Auslassung. Polens EU-Botschafter Jan Tombinski forderte Nachbesserungen.

Trotz schneller Korrektur - es wurden einige Bilder von Solidarnosc-Demonstrationen eingefügt - zeigte sich Polens Außenminister Radoslaw Sikorski nicht ganz zufrieden. Er wollte eigentlich mehr, die Änderungen seien nur "das Minimum", sagte der Chefdiplomat, der selbst 1980 Solidarnosc-Parolen an die Häuserwände seiner Geburtsstadt Bromberg (Bydgoszcz) geschrieben hatte.

An die Adresse Deutschlands und anderer Nachbarvölker sagte Sikorski: Polen habe in der Wende-Zeit die Schlüsselrolle gespielt, weil die Solidarnosc das Gewissen der Menschen wachgerüttelt habe. Erst habe es erste "quasi freie" Wahlen in Polen gegeben, erst später sei die Berliner Mauer gefallen, betonte Sikorski. Polen habe den anderen Nationen den Mut zum Handeln gegeben, so Polens Außenminister.

Bei der Wahl am 4. Juni 1989, an der erstmals auch Regimekritiker teilnehmen konnten, hatten die polnischen Kommunisten eine desaströse Niederlage erlitten und mussten die Machtübernahme durch die demokratische Opposition hinnehmen. Zu diesem Zeitpunkt saßen in Ostberlin und in Prag die kommunistischen Machthaber noch fest im Sessel. In Peking richtete die Staatsmacht unter den protestierenden Studenten sogar ein Blutbad an.

Noch deutlicher formulierte Solidarnosc-Gründer Lech Walesa Polens Anspruch. Den Mauerfall könne man mit dem Kampf der Polen überhaupt nicht vergleichen, sagte der polnische Ex-Präsident in Krakau. Die hätten "dem sowjetischen Bären die Zähne ausgeschlagen", betonte Walesa. DDR-Flüchtlinge seien "Überläufer" gewesen, die ihr Land den Russen überlassen hätten, so Walesa.

"Gazeta Wyborcza" appellierte unterdessen an die Europäer, "weiter zu lernen", um ihre Ansicht zu ändern, wonach die Freiheit Osteuropas erst mit dem Mauerfall in Berlin begonnen habe. Immerhin soll die Rolle Polens in der kommenden Woche in Berlin stärker zum Tragen kommen: Bundestagspräsident Norbert Lammert und sein polnischer Kollege Bronislaw Komorowski sollen dann im Reichstagsgebäude die Ausstellung "Friedliche Revolution - Weg zur Freiheit" eröffnen. Darin zeige Polen seine Sicht auf den Ursprung der Ereignisse des Jahres 1989, erläuterte Komorowski. Im Juni soll zudem ein Stück Mauer von der Danziger Werft, der Wiege der Solidarnosc, am Reichstagsgebäude angebracht werden.

Kanzlerin Angela Merkel ist in diesem Fall von der Kritik der Polen ausgenommen. Ohne die Befreiungsbewegungen in mittel- und osteuropäischen Staaten wäre die deutsche Einheit kaum gelungen, sagte sie unlängst bei einer Konferenz in Berlin. Sie bewundere noch heute den Mut der Polen, betonte die Kanzlerin und erntete Beifall in Warschau. Merkel spreche über Solidarnosc "mit Herz", lobte der Historiker Kazimierz Woycicki.

Quelle: ntv.de, Jacek Lepiarz, dpa

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