Prügel für die Sanitäter Russlands Ärzte trainieren
01.04.2007, 13:46 UhrDie sibirische Rettungssanitäterin Tatjana Tajantschina ahnte nichts Böses, als sie über Notruf zu einem Mann mit Herzproblemen gerufen wurde. Zusammen mit dem Anrufer, einem Alkoholiker, warteten in dessen Wohnung noch zwei Männer, die der Sanitäterin gleich an den Kittel gingen. Nach einem Gerangel konnte sich Tatjana verletzt aus der Wohnung retten. Mehr als eine Woche lag sie mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus ihrer Heimatstadt Krasnojarsk.
In der Industriestadt 3500 Kilometer östlich von Moskau sind solche Überfälle auf Erste-Hilfe-Personal trauriger Alltag geworden. Die Motive der Angreifer sind vielfältig: Mancher will seinen Frust abreagieren. Andere rasten aus, wenn sie aus ihrer Wohnung ins Krankenhaus sollen. Fast immer ist Alkohol im Spiel. Drogenabhängige wiederum haben es auf die Psychopharmaka im Ärztegepäck abgesehen.
In Krasnojarsk haben Dutzende Notdienst-Mitarbeiter nun zur Selbsthilfe gegriffen. In einer Turnhalle üben junge Ärzte und Sanitäter, in der großen Mehrzahl Frauen, den Nahkampf auf hartem Holzboden. Der russische Fernsehsender NTW zeigt, wie dabei auch der Arztkoffer als Schild zur Abwehr von Schlägen eingesetzt werden kann.
Unter den miteinander ringenden Medizinern ist auch die genesene Sanitäterin Tatjana. "Ich hoffe, dass diese Übungen uns helfen werden, wenn wieder mal etwas passieren sollte."
Kampftrainer Alexander Gerassimow ist voller Lob für seine Schüler. "Anfangs hatten sie noch Angst, einen Purzelbaum auf dem Hallenboden zu machen. Aber jetzt gehen sie mit Begeisterung in jede Übung", sagt der kahl rasierte Ausbilder im roten Trainingsanzug.
Vor einigen Jahren hatte der Bürgermeister von Krasnojarsk sogar angeordnet, dass Polizisten zu Risikoeinsätzen mitfahren sollten. Erfahrene Notruf-Telefonisten haben ein Gespür dafür entwickelt, hinter welchen Anrufen Gefahren für die Rettungshelfer lauern. "Stich-und Schussverletzungen, Schlägereien oder die Stimme eines betrunkenen Anrufers. Auch wenn der Anruf aus einem Restaurant oder einer Bar kommt, wittern wir Gefahr", berichtet die Telefonistin Swetlana. Doch die Polizeibegleitung wurde aus Kostengründen nach einigen Monaten abgeschafft. Seitdem sind die Rettungssanitäter wieder auf sich allein gestellt.
Manchmal hilft auch die Menschenkenntnis der Telefonisten nicht mehr weiter. In Krasnojarsk traf es die erfahrene Notärztin Ljudmila Beljantschina, die vor einiger Zeit auf dem Weg zu einer schwer kranken Rentnerin war. Kaum in der Wohnung eingetroffen, erhielt sie einen Schlag auf dem Kopf. Die Ärztin kam erst im eigenen Krankenhaus wieder zu Bewusstsein. Mit Hilfe von Kollegen konnte sie die Ereignisse rekonstruieren: Der Sohn der Patientin war ausgerastet, weil er glaubte, die Notärztin habe sich zu viel Zeit gelassen.
Im zentralrussischen Gebiet Tula sind Angehörige eines Kranken sogar in die Notrufzentrale eingedrungen. Aus Verärgerung über die Arbeit der Notärzte hätten die Randalierer das Einsatzpult mit Benzin übergossen und angezündet, berichteten russische Medien.
Eine Flugstunde östlich von Krasnojarsk greifen die Ärzte und Sanitäter selbst zu rabiaten Mitteln, um sich ihrer Haut zu wehren. Neben Aspirin, Spritzen und Verbandsmaterial führen manche Mediziner dort einen Elektroschocker mit sich. Der helfe vor allem in den dunklen Wintermonaten, wenn der Alkoholkonsum in den Familien immer wieder zu Exzessen führe.
"Wenn wir früher mit unseren weißen Kitteln aufgetaucht sind, haben uns die Menschen sofort bereitwillig unterstützt", berichtete Alexander Schulgin, Rettungsarzt in der Stadt Angarsk bei Irkutsk, dem regionalen Fernsehsender AS Baikal TV. Doch diese Zeiten seien definitiv vorbei. Noch hätten viele Ärzte Skrupel, eine solche Hochspannungs-Waffe mit sich zu führen. Doch zugleich steige die Nachfrage nach den Selbstschutzgeräten enorm.
Von Stefan Voß, dpa
Quelle: ntv.de