Im Dschungel der Reformen Schule außer Atem
18.03.2008, 09:01 UhrDie Lehrer sind überfordert. Sieben Jahre nach Pisa haben die Schulen in Deutschland zahlreiche Reformen durchgemacht. In vielen Bundesländern werden frühkindliche Bildung und Grundschule verzahnt, in Berlin sind Kinder seit 2005 bereits mit fünfeinhalb Jahren schulpflichtig, andere Bundesländer lockern ihre Altersgrenzen für die "Kann-Kinder", in vielen Grundschulen wurde oder wird jahrgangsgemischter Unterricht eingeführt. An den Gymnasien wird die Zahl der Schuljahre verkürzt, die Kultusminister haben so genannte Bildungsstandards beschlossen, das Zentralabitur - in Westdeutschland vor Pisa die Ausnahme - hat sich fast bundesweit durchgesetzt, Ganztagsschulen werden eingeführt. Viele dieser Reformen waren überfällig. Keine von ihnen wurde in Ruhe umgesetzt.

Marianne Demmer ist Vizechefin der GEW. Die gelernte Grund- und Hauptschullehrerin leitet seit 1997 den Vorstandsbereich Allgemeine Schulen.
Den Lehrern reicht es langsam. "Natürlich gibt es Handlungsbedarf an den Schulen, und natürlich steckt hinter einigen Reformen ein sinnvolles Modell. Aber wir erleben derzeit viele Reformen, die nicht aufeinander abgestimmt oder einfach schlecht vorbereitet sind", beklagt Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands.
Fatalismus und Resignation
"Was die Schulen brauchen, ist Zeit und Personal", sagt GEW-Vizechefin Marianne Demmer. Bei den Schulreformen fahre häufig "das Hinterrad ins Vorderrad: Die erste Maßnahme ist noch gar nicht richtig eingeführt, da kommt schon die nächste Reform". Durch dieses konzeptionslose Vorgehen habe sich an vielen Schulen "ein gewisser Fatalismus" ausgebreitet.

Heinz-Peter Meidinger ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes und Oberstudiendirektor aus Falkenberg (Bayern).
Der Philologenverband, in Fragen der Schulpolitik ansonsten nicht unbedingt auf der Linie der GEW, teilt diese Einschätzung. Meidinger spricht von einer "gewissen Resignation" und einer "starken Skepsis", die an den Schulen Reformen gegenüber mittlerweile herrsche.
Im Gespräch mit Demmer und Meidinger wird schnell deutlich, dass die GEW das Hauptproblem in der starken Chancenungerechtigkeit an deutschen Schulen sieht, während der Philologenverband, in dem vor allem Gymnasiallehrer organisiert sind, seinen Schwerpunkt auf das Niveau des Unterrichts legt. Klar ist aber auch: Wenn es um die Reformen im schulischen Alltag geht, sind GEW und Philologenverband einer Meinung.
"G8 ist ein Musterbeispiel für eine verfehlte Reform"
Längst haben auch Schüler und Eltern gemerkt, wie schlecht viele Reformen durchdacht, vorbereitet und ausgestattet werden - und zwar unabhängig von der Frage, wie sinnvoll die einzelne Reform ist. Besonders scharf kritisieren GEW und Philologenverband das Vorgehen bei der Verkürzung des Gymnasiums von neun auf acht Jahre: "Das G8 ist ein Musterbeispiel für eine verfehlte Reform", sagt Heinz-Peter Meidinger. Hier sei "eigentlich alles" schiefgelaufen, meint Marianne Demmer. "Weder wurden die Lehrer richtig vorbereitet, noch wurde an den Schulen die notwendige Infrastruktur geschaffen." Häufig gebe es weder Aufenthaltsräume noch Mittagessen für die Kinder. Aber ohne Nachmittagsunterricht funktioniert die Verkürzung der Schulzeit nicht. Und ohne zusätzliches Personal funktioniert die Umstellung auf die Ganztagsschule nicht. Das aber wurde nicht zur Verfügung gestellt.
Besonders ärgerlich sei, betonen die Lehrerverbände, dass aus Fehlern nicht gelernt werde. "Keine Reform wird richtig evaluiert", kritisiert Meidinger. "Die Kultusminister möchten gern alles überprüfen, was die Schulen tun", sagt Demmer. "Bisher gibt es aber noch keine ernsthafte Evaluation der schulpolitischen Maßnahmen, die die Kultusminister beschlossen haben."

Das Zentralabitur kommt - vorerst auf der Ebene der Bundesländer.
Gleiches gelte für die Vorbereitung von Reformen. Schulversuche, wie es sie etwa zur Einführung von Schnellläufer-Gymnasien gab, "dienen häufig nur dazu, Akzeptanz zu schaffen", so Demmer. "Beliebt ist dabei die Variante, den Schulen, die an Schulversuchen teilnehmen, zusätzlich Personal oder Mittel zu geben. Natürlich gilt der Schulversuch dann als Erfolg. Bei der flächendeckenden Einführung der Reform gibt es aber keine zusätzlichen Lehrer, keine Entlastung, kein zusätzliches Geld."
Im Gegensatz zu seiner GEW-Kollegin lobt Meidinger die stärkere "Output-Orientierung" der Bildungspolitik nach Pisa. Demmer sieht hier ein Manko: "Die Pisa-Ergebnisse haben zwei große Probleme offengelegt: Das eine - aus meiner Sicht das größere - ist die hohe Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft. Der andere Problemstrang ist ein daraus resultierender, im internationalen Vergleich unbefriedigender Leistungsoutput." Nur um dieses Problem hätten die Kultusminister sich gekümmert.
Bundesweites Zentralabitur durch die Hintertür
Meidinger hält die geplante Angleichung der Landeszentralabiturprüfungen für einen "Riesenfortschritt" - der allerdings nicht dazu führen dürfe, "dass die Leistungsstandards in Ländern wie Baden-Württemberg oder Bayern sinken". Eine ähnliche Befürchtung hat Demmer: Bei einem bundesweiten Zentralabitur werde entweder die Qualität sinken oder die Zahl der Studienberechtigten. Das eine wäre ein Problem der stärkeren Bundesländer, das andere der schwächeren.
Die Bildungsstandards, die im Oktober 2007 von der Kultusministerkonferenz beschlossen wurden, könnten laut Demmer "durch die Hintertür" zu einem Zentralabitur führen. Die GEW ist davon nicht begeistert. Dennoch hat das Bundes-Abi einige Freunde, darunter die Bundesbildungsministerin und die Bundeskanzlerin. Doch die KMK lehnte einen entsprechenden Vorstoß seinerzeit ausdrücklich ab. In Lehrerfortbildungen ist trotzdem neuerdings von der Einführung eines bundesweiten Zentralabiturs im Jahr 2013 die Rede.
Wie passt das zusammen? Hier komme das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen ins Spiel, das mit der Ausarbeitung der Bildungsstandards für das Abitur beauftragt wurde, erläutert Demmer. Da das IQB auch den Bundesländern die Aufgaben für ihre jeweiligen zentralen Abiturprüfungen liefere, könne dies dazu führen, dass über kurz oder lang alle Bundesländer "das gleiche landesweite Zentralabitur schreiben, aber nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen".
Diese Einschränkung würde Meidinger gern fallen sehen, wenn es ein Bundeszentralabitur gäbe. "Pisa hat gezeigt, dass nicht nur die Leistungen in den Bundesländern unterschiedlich sind, sondern dass die Leistungen auch unterschiedlich benotet werden. Wir bräuchten also nicht nur ein bundesweites Zentralabitur, sondern auch noch bundeseinheitliche Korrekturkriterien. Das umzusetzen wäre wahrscheinlich noch schwieriger."
Trotz der Bestrebungen einzelner Kultusminister werde es so weit wohl nicht kommen, meint Meidinger. Da ein bundesweites Zentralabitur in ganz Deutschland am selben Tag geschrieben werden müsste, bräuchte man eine Ferienordnung, die dafür sorgt, dass der Abiturtermin in keinem Bundesland in die Ferien fällt. "Allein daran würde das scheitern." Sollte Meidinger Recht behalten, dürften die meisten Lehrer das kaum bedauern. Es wäre eine Reform weniger. Beim IQB gibt man sich auf Nachfragen zu etwaigen Plänen für ein bundesweites Zentralabitur zugeknöpft. Man bedaure: Kein Kommentar.
Quelle: ntv.de