Im Epizentrum der Finanzkrise Steinmeier in New York
24.09.2008, 15:49 UhrSelbst Konservative gratulierten. "Glückwunsch zu deiner Nominierung", sagte Polens Außenminister Radoslaw Sikorski und klopfte im New Yorker UN-Hauptquartier dem SPD-Kanzlerkandidaten auf die Schulter. Andere Kollegen schlossen sich an, um Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach der Beförderung zum offiziellen Herausforderer Mut zuzusprechen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war diesmal nicht zur UN- Vollversammlung gekommen, obwohl ihr Berater empfohlen hatten, dem Konkurrenten nicht das Feld zu überlassen. Im vergangenen Jahr hatte dort die Rollenverteilung ganz in ihrem Sinne geklappt. Merkel holte sich den Glanz ab und ließ dem Vizekanzler undankbare Themen übrig. Doch vielleicht hätte die Regierungschefin diesmal anreisen sollen. Im Epizentrum der US-Finanzkrise verschaffte Steinmeier sich Eindrücke, die weit ins deutsche Wahljahr hineinreichen dürften.
"Chaos, Panik, Furcht"
In und außerhalb des UN-Gebäudes wurde der Außenminister Zeuge einer Zeitenwende, deren Folgen nach Ansicht von Experten die Terroranschläge vom 11. September 2001 noch in den Schatten stellen könnten. "Dies ist ein historischer Augenblick", gab sich ein US-Analyst im deutschen Haus schräg gegenüber der UN überzeugt. Ein deutscher Kollege brachte die aktuellen Gefühle so auf den Punkt: "Chaos, unglaubliche Panik und Furcht - die absolut richtige Zeit, um in New York zu sein".
Seit fast über Nacht ein, wie US-Medien schreiben, "ökonomischer Tsunami" über die sechs Kilometer entfernte Wall Street hinweggefegt ist, hat sich auch die Szene am UN-Sitz verändert. Nie habe er sich vorstellen können, dass ausgerechnet in den USA Banken verstaatlicht werden, wovon er als Juso nur geträumt habe, erklärte Steinmeier unterwegs.
Bush bleibt sich treu
Solche Klassenkampf-Erinnerungen konnte er dann im UN-Gebäude auffrischen. Dort meldeten sich nicht wenige Spitzenpolitiker zu Wort, die mit Schadenfreude und beißender Kritik reagierten. "Sucht nach Krieg" warf etwa der neue Präsident der UN-Vollversammlung, Nicaraguas Ex-Außenminister Miguel d'Escoto dem Westen vor. Mit Beschönigungen über das Ausmaß der Krise lasse sich der Rest der Welt nicht mehr abspeisen. Ähnliche Töne schlug Brasiliens Staatschef an. Mit der "Spekulationsanarchie", die ganze Völker ins Unglück stürzten, müsse jetzt Schluss sein, verlangte Luiz Incio Lula da Silva vor dem Auditorium. Hinter den Kulissen wurde dies noch drastischer formuliert. Dem "ökonomischen Niedergang" der USA werde nun auch der politische Abstieg folgen, gaben sich einige sicher.
Fast schon trotzig reagierte der Hauptadressat. Von einem versöhnlichen Auftritt war bei US-Präsident George W. Bushs Abschiedsvorstellung vor den Vereinten Nationen nichts zu spüren. Dies sei eine rückwärts gewandte Rede gewesen, die alles nur im Lichte des Terrorismus sehe, zeigten sich auch europäische Diplomaten überzeugt. Treu blieb sich der scheidende Präsident auch, als er in New York die Unterstützer des Irak-Kriegs zum Fest-Dinner bat. Dabei nicht eingeladen war Steinmeier, obwohl ihm die Opposition zu Hause Hilfestellung beim Irak-Krieg nachweisen will. Stattdessen traf er sich zur gleichen Zeit mit Wall-Street-Vertretern. Am Mittwoch sagte sich Steinmeier zur Praxis-Stunde über die Krise in der New Yorker Börse an.
Ob er aus diesen Gesprächen konkrete Erkenntnisse für die eigene Wahlkampfplanung mitnehmen kann, blieb offen. Eine Rezession, die von den USA auf Deutschland übergreift, würde der SPD 2009 kaum nutzen. Ein solches Krisenszenario würde eine Neuauflage der großen Koalition wahrscheinlicher machen. Keinen Zweifel gibt es daran, dass der SPD-Mann bei der US-Wahl in sechs Wochen einen Sieg des demokratischen Bewerbers Barack Obama gegen dessen republikanischen Kontrahenten John McCain auch zur Verbesserung der eigenen Chancen herbeisehnt. Denn in der Außenpolitik sieht sich Steinmeier eher mit Obama auf einer Wellenlänge.
Quelle: ntv.de, Joachim Schlucht, dpa