Dossier

Interview mit Michael Müller "Systemwechsel nur ohne Atomkraft"

Das Profitstreben der vier großen deutschen Energiekonzerne steht nach Ansicht von Umweltstaatssekretär Michael Müller dem notwenigen Systemwechsel bei der Energieversorgung in Deutschland entgegen. Sowohl die Atomkraft als auch die klassischen Kohlekraftwerke seien Auslauftechnologien, so Müller im Gespräch mit n-tv.de. "Leider sind die Energieunternehmen auf sehr kurzfristige Renditen ausgerichtet. Die erzielt man nicht durch Umbau", erklärt der SPD-Politiker.

Die Kraftwerksstruktur hierzulande entspräche "den Bedingungen des vorigen Jahrhunderts". Die Konzerne hätten auf Größe gesetzt, riesige Kraftwerkskapazitäten aufgebaut, die sich nur rechneten, wenn man möglichst viel Strom absetze. "Es gibt einen inneren Zwang im System, Energie wie im Supermarkt zu verkaufen", konstatiert Müller. Der Markt der Zukunft sei "ein regionalisiertes System, das unterschiedliche Techniken intelligent und bedarfsgerecht verbindet".

"Schluss mit der Trickserei"

Die Atomstromproduzenten forderte Müller auf, den beschlossenen Atomausstieg ohne Wenn und Aber mitzutragen: "Es muss jetzt Schluss sein mit der Trickserei." Entgegen der Logik des Atomausstiegsgesetzes werde versucht, Restlaufzeiten von neuen auf alte Kraftwerke zu übertragen. Das sei sehr durchsichtig, weil "mit alten, abgeschrieben Atomkraftwerken sehr viel mehr Geld zu verdienen" sei.

Auch die Mär von den AKWs als Klimaschützern müsse aufhören: "Erstens ist Atomenergie nicht CO2-frei." Ein an Gas- und Dampfturbinen gekoppeltes Biogaskraftwerk sei mit weniger CO2-Emissionen verbunden, "wenn man die ganze Kette berücksichtigt". Entscheidender sei, "dass die Atomenergie ein im Grundsatz verschwenderisches Energiesystem verfestigt".

n-tv.de: Selbst die FDP fordert mittlerweile, Krümmel stillzulegen. Wann ist es denn soweit?

Michael Müller: Das Grundproblem bei der Atomenergie ist, dass sie eine Art Sonderwirtschaftszone darstellt. Sie wurde 1956 mit dem Atomministerium so hoch organisiert, dass es unglaublich schwer ist, da Veränderungen vorzunehmen. Damit hängen viele Sonderrechte zusammen, die andere Wirtschaftsbereiche nicht haben.

Müsste Krümmel die Betriebsgenehmigung entzogen werden?

Die Betriebsgenehmigung kann man nicht entziehen, aber man kann die Zuverlässigkeit der Betreiber prüfen. Das wird ja auch im Rahmen eines so genannten atomwirtschaftlichen Aufsichtsgesprächs gemacht. Und wir müssen prüfen, ob man eventuell durch Nachrüstungspflichten etwas verändern muss. Von der Atomindustrie erwarte ich, dass sie jetzt ohne Wenn und Aber erklärt, dass sie am Ausstiegsbeschluss festhält. Jetzt muss Schluss sein mit der Trickserei, dass entgegen der Logik des Ausstiegsgesetzes versucht wird, Restlaufzeiten von neuen auf alte Kraftwerke zu übertragen. Dabei werden zwei durchsichtige Interessen verfolgt: Zum einen ist mit alten, abgeschrieben Atomkraftwerken sehr viel mehr Geld zu verdienen. Zum anderen will man sich in der Hoffnung auf andere Mehrheiten über das Ende der Legislaturperiode hinwegretten.

Die Stromkonzerne stellen Atomkraftwerke neuerdings als Klimaschützer dar.

Ja, aber das ist falsch. Erstens ist Atomenergie nicht CO2-frei. Ein an Gas- und Dampfturbinen gekoppeltes Biogaskraftwerk ist mit weniger CO2-Emissionen verbunden, wenn man die ganze Kette berücksichtigt. Aber der zweite und entscheidende Punkt ist, dass die Atomenergie ein im Grundsatz verschwenderisches Energiesystem verfestigt. Die Atomenergie hat einen Wirkungsgrad, der nicht über 30 Prozent hinausgeht. Die Frage ist nicht, ob die Atomenergie selbst CO2-arm ist, sondern: Welches Energiesystem ist möglich, das sehr viel geringere CO2-Emission hätte? Wenn man in der Bundesrepublik den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung mindestens verdoppeln würde, könnte man viel mehr CO2-Emissionen einsparen, als heute durch die Nutzung von Atomenergie nicht entsteht.

Die Atomenergie ist sehr eng an unser heutiges System geknüpft. Ist ein Systemwechsel mit den Stromkonzernen überhaupt möglich?

Wenn sich die Stromkonzerne an die Spitze einer Neuorientierung setzen würden, dann wäre das kein Problem.

Aber die Atomkonzerne können sich ja nicht dezentralisieren.

Das weiß ich nicht. Mir geht es um etwas anderes: Unsere Kraftwerksstruktur entspricht den Bedingungen des vorigen Jahrhunderts. Man baute große Kraftwerke, um sich auf den Tag X vorzubereiten - den Tag, an dem alle ihren Fernseher, alle Lampen und den Backofen anhaben und an dem außerdem noch eine Reihe von Kraftwerken ausfallen könnten.

Stichwort Versorgungssicherheit…

Dieses System rechnet sich nur, wenn möglichst viel Strom verkauft wird. Es gibt einen inneren Zwang im System, Energie wie im Supermarkt zu verkaufen. Die Energieversorgung der Zukunft sieht ganz anders aus und ist auch heute möglich. Sie ist nämlich die dezentrale Vernetzung unterschiedlicher Systeme, je nach regionaler Bedingung. Geothermie im Oberrheinbecken, Photovoltaik vor allem im Süden, Windenergie vor allem im Norden. Das ist der Markt der Zukunft. Ein regionalisiertes System, das unterschiedliche Techniken intelligent und bedarfsgerecht verbindet.

Aber was sagen die Energiekonzerne zu dieser Zukunftsvision?

Leider sind die Energieunternehmen auf sehr kurzfristige Renditen ausgerichtet. Die erzielt man nicht durch Umbau.

Zum Energiesystem der Vergangenheit gehören auch Kohlekraftwerke. Aber die Bundesregierung lässt neue bauen.

Ich bin der Meinung, dass neue Kohlekraftwerke nur mit Kraft-Wärme-Kopplung entstehen können. Die Zeit der Kondensationskraftwerke, also der reinen Stromkraftwerke, ist zu Ende. Das ist der Konflikt, den wir jetzt austragen müssen. Das Grundproblem ist, dass in der Bundesrepublik mehrere unterschiedliche Energiephilosophien nebeneinander stehen und nicht klar ist, welche sich durchsetzt. Deshalb hoffe ich, dass die öffentliche Debatte dazu führt, mehr Klarheit zu schaffen.

Auf welche Philosophie setzt die Bundesregierung?

Das kommt darauf an, in welchem Ministerium man ist. Das Wirtschaftsministerium vertritt beispielsweise die Meinung, in Anbetracht des europäischen Energiemarktes müsse man auf Größe setzen.

Und das Bundeskanzleramt?

Ich glaube, dass man dort versucht - auch durch Frau Merkels Initiativen beim Europäischen Rat im März -, Klimaschutz und Energiepolitik miteinander zu verbinden. Und das bedeutet auch, dass man zur Veränderung der heutigen Kraftwerkstruktur kommen muss.

Aber so deutlich sagt man das nicht.

Nein, natürlich nicht.

Merkels Auftritte bei der EU gehört zu den erfolgreichen Seiten der Energiepolitik. Aber es gibt auch Kritik. Das Wärmegesetz sollte bereits 2006 auf den Weg gebracht werden.

Da gab es erhebliche Widerstände von den großen Energiekonzernen. Die waren damals sehr stark im Auftrieb. Jetzt ist die Situation anders, ich hoffe erfolgreicher.

Baden-Württemberg hat schon ein Wärmegesetz. Warum ist eine CDU/FDP-Regierung schneller?

Dieses Gesetz ist nicht sehr umfassend. Wir müssen schon eine höhere Stufe erreichen. Baden-Württemberg hat einen Anteil von über 50 Prozent Atomenergie und hat in den letzten zehn Jahren im Grunde nichts unternommen, um von der Abhängigkeit runter zu kommen. Da muss man die Anstrengungen jetzt verstärken.

Zum Energiegipfel: Ihr Fraktionskollege Hermann Scheer hat gesagt, ein solches Treffen sei vergeudete Zeit, denn einen Konsens zwischen den Energiekonzernen und den erneuerbaren Energien könne es nicht geben.

Ich sehe das anders. Nach meinen Informationen ist es so, dass innerhalb der größeren Unternehmen eine heftigste Auseinandersetzung geführt wird, ob der klassische Versorgungskurs noch der Richtige ist. Da würde ich auch diejenigen innerhalb des Unternehmens stärken, die auf Reformen drängen.

Draußen herrscht strahlender Sonnenschein. Da fällt es schwer, dem Klimawandel nur negative Seiten abzugewinnen.

Sie dürfen nicht von unserer privilegierten Situation ausgehen. In Afrika bedeuten zwei Grad Erwärmung 50 Prozent weniger Ernte. Momentan haben wir 0,3 Grad Erwärmung pro Jahrzehnt in Afrika. In 60 Jahren ist der Knackpunkt da. Die peruanische Hauptstadt Lima bezieht ihr Trinkwasser ausschließlich von den Gletschern der Anden. Die sind in den letzten zehn Jahren aber um 22 Prozent zurückgegangen.

Aber haben Sie nicht auch das Gefühl, dass die Stimmung inzwischen kippt? In den Medien ist immer häufiger von "Klima-Hysterie" die Rede.

An dem jüngsten Klimabericht des IPCC haben weltweit etwa 1.400 Wissenschaftler und 480 Institute gearbeitet, insgesamt waren etwa 8.000 bis 10.000 Personen beteiligt. Und dann schreiben zwei Journalisten im "Cicero", dass das alles nicht stimmt. Ich halte das für verantwortungslos. Das gilt übrigens auch für die BBC-Reportage, die auch bei Ihnen gezeigt wurde. Da wurden nur Leute zitiert, die in der Klimadebatte heute kaum noch eine Rolle spielen. Besonders merkwürdig war der "Spiegel". Erst malt er die drohende Klimakatastrophe in den dunkelsten Farben, dann kommt der Titel mit der "Klima-Hysterie". Das passt nicht zusammen.

Ist das nicht wahnsinnig frustrierend? Bei Klimagipfeln sitzen Sie Amerikanern gegenüber, die versuchen, in die Protokolle auch Zweifel am Klimawandel einzubringen, im Kabinett haben Sie es mit dem Wirtschaftsminister zu tun, und Ihr eigener Fraktionschef sprach bereits von "Klima-Hysterie".

Aber wenn ich sagen würde, das hat alles keinen Sinn, würde ich ja meinen eigenen Einsichten zuwider handeln. 1986 habe ich mein erstes Buch über den Klimawandel geschrieben. Damals war das ein Randthema, heute ist es ins Zentrum gerückt. Ich denke, dass jeder Veränderungsprozess drei Phasen hat. Die erste Phase ist die Problemerkennung - die haben wir jetzt. Die zweite Phase ist die Problemdurchdringung - da stehen wir erst am Anfang. Und die dritte Phase ist dann der Neuanfang.

Das Problem ist, dass der Klimawandel unsere Vorstellungskraft übersteigt.

Das stimmt. Der Klimawandel ist eine schleichende Entwicklung. Trotzdem geht er rasend schnell.

Woher beziehen Sie Ihren Strom?

Lichtblick.

(Mit Michael Müller sprachen Tilman Aretz und Hubertus Volmer)

Quelle: ntv.de

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