"Ein übles Gebräu" Talibanisierung in Pakistan
07.05.2009, 10:20 UhrDie Islamisierung in Pakistan greift um sich, im Nordwesten des Landes kämpfen radikale Taliban um Einfluss. Im Westen wächst die Sorge vor einer Machtübernahme durch Islamisten in dem Atomstaat.
Pakistan ringt um seine politische Stabilität. Im Nordwesten des Landes stellen radikale Islamisten die Machtfrage, trotz eines Abkommens mit der Regierung versuchen sie mit aller Macht von ihrer Basis im Swat-Tal aus ihren Einfluss in der Region auszudehnen. Nicht einmal mehr vor einer offenen Konfrontation schrecken sie zurück – und das in einer Entfernung von nur etwa 100 Kilometern von Pakistans Hauptstadt Islamabad. Der Westen verfolgt die Entwicklung mit Schrecken und fürchtet um die Stabilität der Atommacht Pakistan. Zumal das Land einer der wichtigsten Partner für die Stabilität im Nachbarland Afghanistan ist.
Die große Sorge: Können radikale Islamisten die Macht in Pakistan übernehmen?
"Die Talibanisierung greift in der Nordwest-Region gefährlich um sich", sagt Gregor Enste, der die Vertretung der Heinrich-Böll-Stiftung in Pakistan leitet. Enste beobachtet eine zunehmende Islamisierung des gesamten öffentlichen Lebens in Pakistan. Im Nordwesten des Landes hat sich nach seiner Einschätzung "ein übles Gebräu" gebildet, das die Stabilität des ganzen Landes gefährdet: Nach der Erstürmung der Roten Moschee in Islamabad 2007, dem Zentrum der radikalen Islamisten, zogen sich diese in den Nordwesten Pakistans und die angrenzenden Stammesgebiete zurück. Gebiete, über die die pakistanische Regierung seit jeher wenig Kontrolle hat. Dort trafen die Radikalen auf afghanische Taliban- und Al-Kaida-Kämpfer, die in die Region geflüchtet waren. Teils unbeachtet oder von den örtlichen Autoritäten toleriert, konnten diese sehr unterschiedlichen Gruppen ihren Einfluss ausbauen und ihre radikale Auslegung des Islam verbreiten. Soweit, dass Enze davon ausgeht, dass sie mittlerweile 10 bis 11 Prozent des gesamten Staatsgebiets Pakistans kontrollieren.
Gewalt breitet sich aus
Enste sieht mit dem wachsenden Einfluss dieser unter den Begriff der Taliban zusammengefassten Gruppierungen Gewalt und religiöse Auseinandersetzungen auch in andere Landesteile schwappen. Etwa in den Bundesstaat Punjab, "das Herzen Pakistans", in dessen Hauptstadt Lahore die Böll-Stiftung ihren Sitz hat. "Selbst ernannte Tugendbrigaden patrouillieren auf einmal in öffentlichen Parks und achten darauf, dass Frauen den Schleier tragen und Pärchen sich nicht zu nah aneinander auf eine Parkbank setzen", schildert Enste seine Eindrücke. Theater und Kinos würden geschlossen – es seien auch schon Bücher und DVDs verbrannt worden. "Hier zeigt sich die Talibanisierung der Gesellschaft", sagt der Stiftungsvertreter.

"Das war eine Kapitulation": Präsident Zardari wollte mit einem Abkommen die Radikalen beruhigen.
(Foto: AP)
Fehler der Regierung
Eine Mitschuld daran trägt auch die Regierung von Premierminister Asif Ali Zardari. Als sich die Radikalen im Swat-Tal formierten und die Waffen erhoben, zog sie sich zurück und überließ nach einem offiziellen Abkommen den Militanten das Feld. Das Friedensabkommen ist für den Pakistan-Experten Enste ein großer Fehler. "Das war eine Kapitulation vor den Taliban." Damit habe die Regierung die Militanten erst hoffähig gemacht und ihr Vertrauen in der Bevölkerung verspielt. Dass die Regierung nun die Radikalen wieder offensiv bekämpft, zeigt wie konzeptlos ihr Handeln ist.
"Swat war der Versuch, radikale Gruppen politisch zu integrieren", sagt Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Nach Meinung des Wissenschaftlers war das Abkommen vor allem eine taktische Niederlage der Regierung. "Nun kommt es darauf an, ob es gelingt, neben der militärischen Offensive auch eine politische, vor allem entwicklungspolitische Offensive einzuleiten. Wenn die Regierung Gebiete von den Taliban erobert, muss sie diese auch langfristig sichern können", sagt Wagner mit Blick auf das Vorrücken der pakistanischen Armee in der Region.
Mehrheit lehnt Islamisten ab
Dass die pakistanische Regierung nach dem vermeintlichen Friedensabkommen mit den Taliban im Swat-Tal nun doch die Radikalen bekämpft und massiv gegen sie vorgeht, ist vor allem auf die Stimmung in der Bevölkerung zurückzuführen. Denn die Mehrheit der Menschen in Pakistan lehnt einen radikalen Islam im Sinne der Taliban ab, auch wenn es laute Stimmen der Befürworter gibt. "Die Zivilgesellschaft hat die Regierung angefleht, endlich mit voller Härte gegen die Militanten vorzugehen", erklärt Enste. Die Armee habe jetzt die volle Rückendeckung von Regierung und Opposition.

Nun bekämpft die Regierung die Taliban offensiv, hat dafür auch die Rückendeckung in der Bevölkerung.
(Foto: AP)
An eine Machtübernahme der Islamisten glaubt er deshalb nicht. "Dazu sind die radikalen Kräfte weder politisch noch militärisch in der Lage", erklärt Enste. Sie wüssten selbst, dass sie für ganz Pakistan zu schwach seien. Ähnlich urteilt Wagner von der SWP. Zwar würden einzelne Gruppierungen der radikalen Islamisten durchaus die pakistanische Regierung stürzen wollen, weil sie nichts von der Demokratie hielten. Aber eine Gefahr der Machtübernahme bestehe nicht. "Die Taliban-Gruppen überschätzen sich maßlos." Gegen Pakistans Armee mit ihren mehr als 600.000 Soldaten könnten sie nicht gewinnen, ihr Rückhalt in der Bevölkerung sei zudem regional begrenzt.
Ziel heißt Taliban-Staat
Das Problem aber bleibt: Die Militanten wollen in der Grenzregion zu Afghanistan am liebsten eine Art "Taliban-Staat" aufbauen, in dem sie ihre radikale Version des Islam praktizieren können. Wer mit ihnen als Stammesführer kooperiert bekommt Geld oder die Garantie der Waffenruhe. Dem muss die Regierung in Islamabad etwas entgegensetzen. "Militärisch ist die Guerilla-Organisation der Taliban kaum zu besiegen. Diese Erfahrung mussten die westlichen Staaten auch schon in Afghanistan machen", sagt Wagner. Deshalb setze die pakistanische Regierung zu recht auf einen umfassenden Ansatz: Den politischen Dialog, die wirtschaftliche Entwicklung und die militärische Bekämpfung der militanten Gruppen. "Es wird nichts anderes übrig bleiben als mit den unterschiedlichen Gruppen politische Lösungen auszuhandeln und die wirtschaftliche Entwicklung in einer der unterentwickelsten Regionen Pakistans in Gang zu setzen, um damit die radikalen Gruppen zu isolieren", meint der Wissenschaftler.
Ob das der jetzigen Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari gelingen wird, ist offen. Der Präsident ist umstritten: "Die nächste Machtprobe zeichnet sich bereits ab, wenn es um die Vollmachten des Präsidenten geht, die er wieder ans Parlament oder den Premierminister abtreten soll", sagt Wagner. Stiftungsvertreter Enstes hält Neuwahlen im September oder Oktober für möglich, dann werde die jetzige Regierung "aus dem Amt gejagt werden". Bedauerlicherweise stünde dann aber ein Mann als Nachfolger bereit, der bereits in den 90er Jahren Regierungschef war und derzeit stark von den USA hofiert werde: Oppositionsführer Nawaz Sharif. Ob dieser den langen Atem zur Befriedung und zum Aufbau der umkämpften Gebiete haben wird, ist fraglich.
Quelle: ntv.de