"Jetzt fühl ich mich normal" Türkei hebt Kopftuchverbot auf
10.02.2008, 14:49 UhrDie Aufhebung des Kopftuchverbotes an türkischen Hochschulen macht junge Frauen wie Cahide Yagci (24) zur Trendsetterin. Vor die Wahl gestellt, den streng gebundenen "Türban" abzulegen oder nicht studieren zu können, ging sie vor vier Jahren für die Ausbildung nach Aserbaidschan. Als Zeichen ihres Glaubens will sie das Kopftuch verstanden wissen. Ganz freiwillig und ohne Druck trage sie es, wie alle Frauen ihrer Familie. "Die Zahl der Frauen mit Kopftuch wird nun zunehmen", freut sie sich.
Hümeysa (23) ging den Weg des geringeren Widerstandes. Seit ihrem Aufnahmetest in der Türkei trägt sie eine Perücke über dem Kopftuch und verschleiert damit gewissermaßen den Schleier. "Ich fühle mich nun normal. Bisher habe ich mich nicht normal gefühlt", sagt sie, nachdem das Parlament die Verfassung geändert hat. Die Lehrer wüssten von ihrer Aufmachung und behandelten sie fair, sagt sie. Allerdings werde sie von einigen Mitstudentinnen böse geschnitten.
Denn auch wenn eine deutliche Mehrheit der Frauen in der Türkei das Kopftuch trägt, für viele moderne Frauen aus der kemalistischen Elite hat das Parlament am Wochenende die Weichen weg vom laizistischen Staat gestellt. Die Universitäten gelten als Stätten, in den die Spielregeln festgelegt werden für die Trennung von Staat und Religion. In der Praxis der Türkei bedeutet dies eine Kontrolle der Religion durch die staatlichen Institutionen.
"Diese Entscheidung wird Hisbollah, El Kaida und den Fanatismus in die Türkei bringen. Letzte Station ist Afghanistan", schimpfte die Parlamentsabgeordnete Nesrin Baytok von der oppostionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Die Partei hat angekündigt, vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Denn der erklärte Wille der Mehrheit in der Türkei soll nicht gelten, wenn es um die von Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk verfügte Trennung von Staat und Religion geht.
Sabih Kanadoglu, Generalstaatsanwalt am Obersten Gericht, drohte der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und der in dem Kopftuchstreit mit ihr verbündeten nationalistischen MHP Ende Januar gar mit einem Verbotsverfahren. Er warnte davor, den Weg hin zu einer religiösen Diktatur zu beschreiten. "Niemand hat die Freiheit, die Demokratie zu zerstören", sagte er. Die Türkei, wo bereits mehr als 30 Parteien verboten wurden, sei ein "Grab für Parteien".
Doch die mächtige Armeeführung hielt sich mit öffentlichen Äußerungen zurück. Erst nach dem Militärputsch 1980 wurde das Kopftuchverbot mit einer Verwaltungsverordnung erlassen, später mehrfach verschärft. Dies war auch eine Reaktion auf das Erstarken des politischen Islam. Der ganze Streit zeigt, wie zerrissen die Türkei innerlich in der Frage ist. Aber immerhin 65 Prozent der Türken unterstützen laut einer jüngsten Umfrage die Freigabe des Kopftuches an den Universitäten.
Mit der Verfassungsänderung vom Wochenende sei der Streit nicht beigelegt, sagt der frühere Ministerpräsident Mesut Yilmaz, der 2002 in einer schmerzlichen Wahlniederlage der AKP unterlegen war. Die Hochschulen seien die wichtigsten Institutionen, um die Trennung von Staat und Religion zu verwirklichen. Die Spannungen würden nun noch zunehmen.
Von Carsten Hoffmann, dpa
Quelle: ntv.de