Sorgt Karlsruhe für mehr Gleichheit? Urteil zum deutschen Wahlrecht
01.07.2008, 12:05 UhrWenn das Bundesverfassungsgericht am 3. Juli ein Urteil zum komplizierten deutschen Wahlrecht verkündet, wird Winfried Hassemer nicht mehr unter dem hölzernen Bundesadler Platz nehmen. Doch der Name des Anfang Mai ausgeschiedenen Vizepräsidenten steht unter dem Urteil, er hat noch mitentschieden. Und vielleicht räumt der Richterspruch einen Konflikt aus, der Hassemer zu Anfang seiner Karlsruher Karriere geplagt hatte - den Konflikt um das Thema Überhangmandate.
Überhangmandate sind eine Nebenwirkung des deutschen Mischsystems aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Oder vielleicht eher, wie Kritiker meinen, ein Krankheitssymptom, das von der Ungleichheit unseres Wahlrechts zeugt. Solche Mandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach der Zweitstimme über die Landeslisten zustehen. Und das Phänomen hat Konjunktur: In den ersten 40 Jahren der Bundesrepublik fielen insgesamt 16 Überhandmandate an, zwischen 1990 und 2005 waren es 54 - vorwiegend im Osten.
Jedenfalls hatten sich die Richter des Zweiten Senats - wie Hassemer in der mündlichen Verhandlung im April bekannte - im Jahr 1997 "sehr gestritten" über dieses Thema. Was seinerzeit unschwer an der Begründung abzulesen war: Vier Richter hielten die Überhangmandate für hinnehmbar, vier erachteten sie für verfassungswidrig. Einer davon war Hassemer, der - wie er es ausdrückte - "letzte Mohikaner" aus der damaligen Besetzung. Unentschieden heißt in Karlsruhe: Die Sache ist gerade noch verfassungsgemäß.
Diesmal wird das Wahlrecht wohl nicht ungeschoren bleiben. Das dürfte zumindest für das vordergründige Hauptthema des Verfahrens gelten, das Experten als "negatives Stimmgewicht" bezeichnen. Eine Kuriosität, die bei der Bundestagswahl 2005 Furore machte.
Weil im Wahlkreis Dresden die Direktkandidatin der NPD gestorben war, wurde eine Nachwahl notwendig, zwei Wochen nach dem regulären Termin. Der Union bescherte ein mathematischer Mechanismus des Wahlrechts eine geradezu paradoxe Ausgangssituation: Sie durfte nicht zu viele Stimmen gekommen. Ihre Zweitstimmenzahl musste unter 41.225 bleiben - ein höheres Ergebnis hätte einen Mandatsverlust bedeutet. "Das Schlimmste, was einem Wahlgesetz passieren kann", ätzte der Berliner Professor Hans Meyer, der die beiden Beschwerdeführer vertritt, in der Anhörung im April.
Dass dies vor den strikten Wahlrechtsprinzipien des Grundgesetzes kaum Bestand haben dürfte, wurde damals bereits deutlich. Offen ist nur, ob der Senat bei der Beseitigung des Symptoms stehen bleibt oder gleich die Wurzel des Übels kuriert - eben jene Überhangmandate.
Die Schwierigkeit mit den Überhangmandaten besteht darin, dass Wahlen nicht nur unmittelbar und allgemein, nicht nur frei und geheim sein müssen - sondern auch "gleich". So steht es in Artikel 38 Grundgesetz, den das Bundesverfassungsgericht in den Grundsatz der Wahlgleichheit übersetzt hat: Jede Stimme muss den gleichen "Zählwert" und die gleiche Erfolgschance haben.
Die Überhangmandate verzerren den Zählwert: Erzielt eine Partei viele solcher Sitze, hat die Stimme ihrer Wähler letztlich mehr Gewicht als bei der politischen Konkurrenz. Karlsruhe hatte das 1997 für die Bundestagswahl 1961 durchgerechnet: Während Parteien ohne Überhangmandate damals knapp über 60.000 Stimmen pro Mandat benötigten, reichten der CDU knapp 58.800 - Unionsstimmen hatten damit mehr Gewicht.
Schon damals hatte das Gericht die Schieflage nur zähneknirschend akzeptiert. Die unterlegene Hassemer-Fraktion wollte seinerzeit Ausnahmen von der strikten Gleichheit der Wahl nur aus "zwingenden Gründen" zulassen. Sollte Karlsruhe nun das Wahlrecht durcheinanderwirbeln, könnte dies in Berlin für einige Unruhe sorgen - die Vorbereitungen für die Bundestagswahl 2009 laufen schließlich gerade an.
Von Wolfgang Janisch, dpa
Quelle: ntv.de