Verhaltenstherapie im Klassenzimmer "Wohlfühlen" statt Koma-Saufen
16.07.2009, 21:39 UhrBundesdrogenbeauftrage Bätzing setzt zwecks "Lebenskompetenzvermittlung" auf ein neues Schulfach. Es soll Jugendlichen zu einem besseren, gesündern und drogenfreien Leben verhelfen. Die Lehrer sind skeptisch.

Das Problem Alkohol: Immer mehr Jugendliche trinken exzessiv.
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Ein neues Fach soll Schülern nach dem Willen der Bundesdrogenbeauftragten zu einem besseren, gesünderen und drogenfreien Leben verhelfen. Auch wegen der dramatischen Verbreitung des Koma-Trinkens macht sich Sabine Bätzing für ein Fach "Wohlfühlen" stark. Die Lehrer reagieren skeptisch.
Jeder fünfte 12- bis 17-Jährige betrinkt sich regelmäßig exzessiv. Mehr als 23.000 Minderjährige kamen bei der letzten Erhebung 2007 mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Jugendliche sehen gleichzeitig einer Zukunft voller Wirtschafts- und Umweltrisiken entgegen.

Immer wieder haben Rettungssanitäter nach Trinkgelagen von Jugendlichen alle Hände voll zu tun.
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"Wohlfühlen" als Schulfach
Nach Bätzings Überzeugung soll die Schule helfen. Die SPD- Politikerin spricht sich für ein Schulfach nach britischem Vorbild aus - Well-being, auf Deutsch: Wohlfühlen. "Da geht es um Lebenskompetenzvermittlung", sagt sie. Bätzings Idee klingt nach Verhaltenstherapie im Klassenzimmer - wie geht man mit Konflikten um? Wie mit Stress zu Hause, Schulärger, Liebeskummer? Gesunde Ernährung und Bewegung sollen befördert werden - und ein Alltag ohne Kicks aus der Flasche.
"In der neunten Klasse zwei Stunden im Biounterricht über Alkohol zu sprechen - das ist eindeutig zu spät", sagt Bätzing. Die Kommunen unterstützen die Forderung. Gewalt, Kriminalität und Armut als Begleiterscheinungen von Alkoholismus machen ihnen zu schaffen. "Schule hat nicht nur einen Wissensvermittlungsauftrag", sagt der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. "Wir wollen Bürger, die die Gefahren auch des Drogen- und Alkoholkonsums kennen." Das gehöre verstärkt in den Unterricht. "Wenn sie in die Lehrerausbildung schauen, da finden diese Themen gar nicht statt."
Keine Kapazitäten

Lehrer sollen fächerübergreifend Alternativen zum Rausch aufzeigen, wie zum Beispiel Hobbys und Aktivitäten.
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Die Lehrer sehen sich freilich heute schon mit immer mehr Wünschen konfrontiert. Der Deutsche Philologenverband winkt deshalb ab. "Ein eigenes Unterrichtsfach ist keine richtige Antwort", sagt der Vorsitzende Heinz-Peter Meidinger. Rund ein Dutzend neue Fächer von Anti-Aids-Erziehung bis hin zu Umweltschutz seien in den vergangenen Jahren schon gefordert worden. Und als Folge der dramatischen Finanzkrise wurde nach einem Fach Wirtschaftskunde gerufen.
Ginge ein neues Fach "Wohlfühlen" zulasten anderer Fächer? "Durch Einführung eines solchen Fachs können auch die Leistungen in Physik und Mathematik steigen", sagt Bätzing. Meidinger entgegnet: "Wir haben schon das Problem, dass wir zentrale Kernfächer wegen des verkürzten Gymnasialgangs teilweise nur noch dreistündig haben." Die Folge wäre bei diesen Schulen vielfach ein dritter Nachmittag mit Unterricht pro Woche.
Jugendliche stark machen
"Grundsätzliche Verhaltensänderungen erfordern doch eine ganze Menge Einsichten über viele Fächer hinweg", sagt Meidinger, "da vertraue ich lieber auf gute Lehrer in allen Fächern." Über die Behandlung bei Sucht müsse ein Lehrer nicht konkret Bescheid wissen - aber darüber, die Schüler zu etwas eigenem anzuregen. Früher setzten Schulen auf Abschreckung, gegen Zigaretten etwa auf Bilder von Raucherlungen im Unterricht. Heute lautet laut Meidinger öfter das Motto: "Jugendliche stark machen." Hobbys, Aktivitäten, Alternativen zum Rausch sollen gezeigt werden.
Bätzing hat wohl geahnt, dass ihre Idee nicht gleich Begeisterungsstürme auslöst. "Wenn das mit dem Schulfach jetzt noch nicht klappt", sagt sie wohlweislich, "ist es möglich, Lebenskompetenz verstärkt in Religion, in Deutsch, in Englisch einfließen zu lassen."
Auf einem anderen Blatt steht übrigens das Tabuthema Alkohol im Lehrerzimmer. Stressbelastung, Anspannungen und Anstrengungen machen Lehrer zu einer von vielen Risikogruppen. Der Koordinator für Suchtprophylaxe des Berliner Senats, Heinz Kaufmann, sagte unlängst in einem Interview: "Ich vermute stark, dass der Alkoholismus bei Lehrern stärker verbreitet ist als beim Rest der Bevölkerung."
Quelle: ntv.de, Basil Wegener, dpa