Zwischenruf Ägypten am Scheideweg
25.06.2012, 17:17 UhrMit der Ausrufung eines Islamisten zum Sieger der ägyptischen Präsidentenwahlen beginnt ein neuer Abschnitt der Nach-Mubarak-Ära. Mohammed Mursis Ankündigung, die Beziehungen zu Iran ausbauen zu wollen, versetzt Israel in helle Aufruhr.

Mursi ist der neue Präsident, doch die wahre Macht im Land ist immer noch der Militärrat.
(Foto: REUTERS)
Ägypten geht es so wie anderen arabischen oder auch osteuropäischen Staaten: Was sich zu Beginn als revolutionärer Tiger geriert, landet schließlich als autokratischer Bettvorleger, als islamistischer obendrein: Mit einem Muslimbruder als Präsident begibt sich das Land auf einen Weg, dessen Ziel ungewiss ist. Sicher: Mohammed Mursi hat erklärt, er wolle alle vor seiner Präsidentschaft geschlossenen Verträge respektieren. Gutunterrichtete Kreise in Tel Aviv meinen, dem neuen Staatschef bliebe gar nichts anderes übrig als eine Konfrontation mit dem Nachbarn im Norden zu vermeiden. Auch die Wähler der Muslimbrüder wollten schlussendlich nur besser leben als unter dem gestürzten Hosni Mubarak. Deshalb müsse Mursi dafür sorgen, dass die stark kriselnde Wirtschaft wieder wachse. Das Treffen mit dem Industriellenverband noch vor Bekanntgabe der Wahlergebnisse zeigt, dass sich Mursi dieses Problems bewusst ist. Doch bedeutet wirtschaftlicher Aufschwung heuer nicht mehr zwangsläufig mehr Lebensqualität oder mehr Arbeitsplätze. Und wenn, dann dauert das so seine Zeit.
Gewaltsamer Ausbruch von massenhafter Unzufriedenheit lässt sich in islamisch geprägten Ländern am besten immer noch durch Antisemitismus und Ultranationalismus in andere Bahnen lenken. Zudem hat Mursis Partei für Freiheit und Gerechtigkeit im derweil aufgelösten Parlament nur mit den Radikalsalafisten der Nour-Partei eine Mehrheit. Mursis Austritt aus seiner Partei ist allenfalls ein kosmetischer Akt. Israels Regierende sind deshalb verständlicherweise misstrauisch. Insbesondere die Ankündigung, die Beziehungen zum Iran verbessern zu wollen, ließ aufschrecken.
Innenpolitisch, da sind sich israelische Beobachter einig, wird sich der Islamisierungstrend fortsetzen. Dabei dürften Kopftuch und Burka nur äußere Zeichen einer verschärften Diskriminierung der Frauen sein. Auch dürfte es nicht nur ein Verbot öffentlichen Alkoholkonsums sein, das Touristen abschrecken wird. Aus Furcht vor den Islamisten hatten sich viele Christen dem Post-Mubarak-Kandidaten Ahmed Schafik zugewandt.
In welche Richtung Mursi auch gehen mag oder gedrängt wird: Die wahre Macht in dem Land ohne neue Verfassung und Legislative hat immer noch der Militärrat in der Hand. Das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben. Demokratie ist das nicht. Und genau dieser Zustand birgt ein ungeheures Konfliktpotential. Nach innen wie nach außen.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist er Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de