Zwischenruf Chodorkowski und die Seilschaften
15.12.2010, 14:46 UhrAngeblich haben die russischen Richter das Urteil gegen den ehemaligen Oligarchen Chodorkowski noch nicht fertiggestellt. Doch die Verurteilung scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Zumal Ministerpräsident Putin hier eine klare Ansicht hat.
Man habe nicht genügend Zeit gehabt, das Urteil fertig zu stellen, ließ das mitteilen. Auf Nachfrage. Wer’s nach zehn Prozessmonaten glaubt, wird selig. Denn vor dem Gerichtsgebäude in Moskau stand auf einem D-A-Blatt lediglich, die Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski und dessen früheren Geschäftspartner Platon Lebedew sei auf den 27. Dezember verschoben.
Chodorkowski, weniger Lebedew, war so lange einer von Russlands gehätschelten Oligarchen, wie er obrigkeitsverbunden treu und brav eine Milliarde nach der anderen scheffelte. Wer meint, der frühere Funktionär des KP-Jugendverbandes Komsomol wäre durch Rechtschaffenheit binnen weniger Jahre zum wahrscheinlich reichsten Mann zwischen Murmansk und Wladiwostok geworden … wird auch selig. Wenn einer 1993 den Präsidentschaftswahlkampf eines Boris Jelzin organisiert, dann drückt man gern alle verfügbaren Augen zu.
Mit dem Wechsel vom System Jelzin zum System Putin wurden die Karten in Wirtschaft und Finanzen neu gemischt. Wer zu kurz gekommen war, wie die Petersburger Seilschaften um den neuen Mann im Kreml, drängte an die Futternäpfe. Wer da im Wege stand, machte mehr oder weniger freiwillig den Nachrückenden Platz oder floh ins Ausland. Chodorkowski blieb. Als er begann, bürgerliche Oppositionsparteien zu unterstützen, mit dem US-Botschafter über Dies und Das parlierte und das Magazin "Forbes" ihn auf Platz 7 der weltweit mächtigsten Wirtschaftsbosse setzte, war das Maß voll.
Das erste Mal war Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden. Er wird aber nicht weniger auf die Seite gebracht haben als andere Neureiche, die in Champagner baden, während an Moskauer Fernbahnhöfen obdachlose Kinder bei bitterer Kälte vor sich hin vegetieren.
Durchsichtige Vorwürfe
Der Vorwurf in diesem zweiten Prozess, Chodorkowski und Lebedew hätten mehr als 200 Millionen Barrel Öl gestohlen, ist so durchsichtig, dass ihn sogar der frühere Wirtschaftsminister Arkadi Dworkowitsch in Frage stellt. Dworkowitsch berät heute Präsident Dimitri Medwedew. Daraus einen Baustein im vermeintlichen Konflikt Staatschefs mit seinem Ministerpräsidenten zu formen, geht zu weit. Aber Nuancen werden deutlich. Sowohl Medwedew als auch Putin wissen, dass Chodorkowski im Westen als Symbol der Demokratie gilt und eine abermalige Verurteilung dem Ansehen des Landes schadet.

Putin zeigt sich unerbittlich in der Sache.
(Foto: REUTERS)
Nur schert sich Putin im Unterschied zu Medwedew nicht darum. Der Regierungschef gilt als rachsüchtig. Zudem würde ein Freispruch als Schwäche gewertet. Und die kann sich Putin nicht leisten, wenn er mit Hilfe der Wähler zurück in den Kreml will. Denn gegenwärtig spielt der Fall Chodorkowski für die Mehrheit der Bürger der Russischen Föderation kaum eine Rolle. Eine Absolution ließe Putin als Verlierer erscheinen.
So wird der Richter bis zur Verkündung seines Spruches fleißig Nachsitzen müssen, um den Grund für eine zu formulieren, um ihn dann zu verkünden, wenn sich das Abendland am Schein der Weihnachtskerzen erfreut. Alles andere wäre ein Wunder.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de