Woran jede Regierung scheitert Das Bürokratie-Monster ist nicht totzukriegen


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(Foto: IMAGO/Bernd Leitner)
Jede Koalition der vergangenen drei Jahrzehnte versprach einen entschiedenen Kampf gegen Bürokratie. Die Realität sieht anders aus. Auch die Ampel wird scheitern. Es wird Zeit für eine Revolution der deutschen Verwaltung.
Demokratie und Bürokratie sind nah beieinander - jedenfalls was den hinteren Wortteil betrifft. "Kratie" hat seine Wurzel im altgriechischen Begriff Kratos, was für Macht und Stärke steht. In Ausgaben von "Meyers Konversationslexikon" kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde Bürokratie wie folgt beschrieben: "Büreaukratie (franz.-griech., ‚Schreibstubenherrschaft‘), Bezeichnung für eine kurzsichtige und engherzige Beamtenwirtschaft, welcher das Verständnis für die praktischen Bedürfnisse des Volkes gebricht." Und weiter: "Der Boden der Büreaukratie ist der Absolutismus."
Bis heute herrscht die Bürokratie in deutschen Landen. Wir, die Menschen, die sie erfunden haben, vermögen es nicht, ihre Macht zu brechen - trotz aller Versuche. Verträge bundesrepublikanischer Koalitionen der vergangenen Jahrzehnte sind Beleg dafür. Sie bilden - analog zu den ewigen Ankündigungen einer großen Steuerreform - die Chronik eines multiplen Politikversagens und eines mehrfach gebrochenen Versprechens. In keinem der Abkommen fehlten Beteuerungen, die Bürokratie abzubauen. Aber sie wurde immer mehr. Und mehr. Und mehr.
Drei verschiedene Koalitionen, ein Vorhaben
Wir könnten mit der Rückschau früher beginnen, aber fangen wir nach dem Ende der 16-jährigen Ära Helmut Kohls an: 1998 nahmen sich SPD und Grüne unter dem Titel "Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert" eine Modernisierung des Staates vor, "indem wir die Verwaltung bürgernäher gestalten und überflüssige Bürokratie abbauen", was mit "Erreichung von Transparenz und Bürgernähe" einhergehen sollte. Vier Jahre später erklärte das Bündnis im Vertrag zu seiner Neuauflage: "Den Mittelstand werden wir von unnötiger Bürokratie befreien." Sowie: "Durch einen umfassenden Bürokratieabbau in der Verwaltung werden wir mehr Qualität und bessere öffentliche Dienstleistungen schaffen."
2005 folgte Angela Merkel auf Gerhard Schröder. 16 Jahre hatte sie als Kanzlerin Zeit und Macht, die "Schreibstubenherrschaft" zu beenden oder wenigstens zurückzudrängen. Im ersten Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD unter Merkel kam das Wort "Bürokratie" 47-mal in verschiedenen Varianten vor. Kapitel 9 war vollständig dem "Bürokratieabbau" gewidmet. Unterpunkt 9.1 hieß: "Entlastung der Bürger und der Wirtschaft von Bürokratiekosten". Dazu zählte: "Den Mittelstand werden wir durch den Abbau von Bürokratie entlasten." Ziffer 9.2 lautete: "Planungsbeschleunigung und Entbürokratisierung."
Vier Jahre später erfüllte sich der Traum der FDP: Sie durfte wieder mit der Union regieren. Die Liberalen waren bekanntlich schon damals Kämpfer für Eigenverantwortung und einen effizienten Staat. Die Partner hatten einiges vor. "Bürokratie" - meistens verbunden mit "Abbau" - schaffte es 44 Mal in den Koalitionsvertrag. "Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachen und von unnötiger Bürokratie befreien." Das beruhte auf folgender Erkenntnis: "Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung wirken wie ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif."
2013 wählte die Bevölkerung das schwarz-gelbe Bündnis ab, die Anti-Bürokratie-Partei FDP flog aus dem Bundestag. Merkel holte wieder die SPD ins Boot. Die - damals war die Bezeichnung noch gerechtfertigt - Große Koalition verschrieb sich dem… Sie wissen schon. "Wir wollen Wirtschaft und Bürger weiter spürbar von unnötiger Bürokratie entlasten", hieß es im Regierungsabkommen. Das sollte die Wettbewerbsfähigkeit "insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen" stärken. Denn bekannt war bereits in jener Zeit: "Eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung und geringer Erfüllungsaufwand sind ein wesentlicher Standortvorteil." Damit nicht genug: "Bürokratieabbau muss auch auf europäischer Ebene stattfinden."
2017 begannen die letzten vier Jahre der Regierungszeit Merkels. Wieder war es die SPD, die ihr und der Union zur Mehrheit verhalf. Die Koalition verkündete Bürokratieabbau an verschiedenen Stellen. "Im Rahmen eines Bürokratieabbaugesetzes III werden wir insbesondere die Statistikpflichten verringern". Und ganz, ganz wichtig: Die Bundesnetzagentur sollte den Auftrag erhalten, "ihre App zur Mobilfunknetzmessung so" zu modernisieren, dass alle Handynutzer zwischen Flensburg und Füssen "einfach und unbürokratisch Funklöcher an die Behörde melden können". Der Fortschritt nahm seinen Lauf.
Großspuriges Ampel-Versprechen
Und führte zur Ampel: Seit Ende 2021 regieren SPD, Grüne und die FDP. Die Koalition stellte einen neuen Rekord auf: "Bürokratie" und "bürokratisch" hat es in diversen Varianten 63-mal in die Vereinbarung geschafft. Das Bündnis verspricht "Tempo beim Infrastrukturausbau". Angedacht ist: "Wir werden deshalb Planungs- und Genehmigungsverfahren modernisieren, entbürokratisieren und digitalisieren sowie die Personalkapazitäten verbessern." Und noch wichtiger: "Wir schaffen neues Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum. Dazu stärken und entbürokratisieren wir die Innovationsförderung und -finanzierung." Unter "Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft" heißt es: "Überflüssige Bürokratie werden wir abbauen."
Auf ihrer Klausur in Meseberg hat die Koalition ein Sammelsurium von knapp 30 Vorschlägen mit marginaler Wirkung zusammengetragen. Nach allem, was bekannt geworden ist, plant die Ampel unter anderem: Prüfpflichten für alte Ionisationsrauchmelder sollen nachgebessert, Angaben zu Allergenen, Zusatzstoffen und Aromen in lose verkauften Lebensmitteln nur noch digital statt schriftlich beim Händler vorliegen, deutsche Gäste in Hotels keinen Meldeschein mehr ausfüllen müssen und steuerrechtliche Fristen für die Aufbewahrung von Buchungsbelegen von zehn auf acht Jahre sinken. Da muss man kein Zyniker sein, um zu fragen, ob das für "neues Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum" sorgt.
Die Realität sieht so aus: Firmen werden permanent aus Brüssel, Berlin oder einem Bundesland mit neuen Verordnungen, Rechtsvorschriften und Paragrafen ge- und überfordert. Die Errichtung von Wohnhäusern wird von Bürokratie behindert, die den Bau häufig teuer macht und wegen der Ressourcen vergeudet werden. Allein das Heizungs- und das Lieferkettengesetz, das Unternehmen verpflichtet, rund um den Erdball auf Menschenrechte und Umweltstandards bei Zulieferern und Geschäftspartnern zu achten, sind neue "Bürokratiemonster". Hinzu kommt als Folge einer EU-Richtlinie, dass weitaus mehr Unternehmen als bisher zur Nachhaltigkeitsberichterstattung verpflichtet sind.
Es braucht ein Einsehen
SPD, Grüne und FDP bereichern die hochkomplexe Welt durch filigrane Regularien in teils nicht gekannter Kleinteiligkeit. Fragt man Mittelständler, wie "entlastet" sie sich fühlen, sprechen sie von einem tonnenschweren Gewicht auf ihren Schultern. Wenn gesetzliche Vorgaben Sinn machen sollen, müssen sie befolgt werden. Ihre Kontrolle ist personalintensiv. Die Leute, die den Job übernehmen, fehlen als Fachkräfte in der Produktion oder im Dienstleistungsgewerbe.
Der frühere Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, legte im Sommer 2021 - wenige Wochen vor der Bundestagswahl - endlich den nötigen Mut an den Tag und sprach ohne Rücksicht auf Merkel die Wahrheit aus: Er erklärte das föderale System inklusive des Verwaltungsapparates für nicht mehr reformierbar. "Wir brauchen eine Jahrhundertreform - vielleicht sogar eine Revolution." Es wäre schon schön, nichts mehr zu versprechen und das Projekt "Bürokratieabbau" wie die große Steuerreform einfach zu den Akten zu legen und im Koalitionsvertrag auszusparen.
Quelle: ntv.de