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Zwischenruf Der Fenstersturz zu Prag

Absehbar war der Sturz von Tschechiens Premier Mirek Topolnek schon. Dass seine Gegner in der Opposition und der eigenen Partei aber nicht bis zum Schluss der EU-Ratspräsidentschaft warteten, ist bezeichnend. Anders als in Lettland, Rumänien oder Ungarn ist die Krise auf die tschechische Wirtschaft noch (?) nicht in vollem Maße durchgeschlagen. Die Arbeitslosigkeit sank sogar leicht, die Landeswährung Krone verzeichnete nach dem Votum des Unterhauses gegen den Konservativen nur leichte Kursschwankungen. Die Nationalbank rechnet für das laufende Jahr mit einem Minus des Bruttoinlandsprodukts von lediglich 0,3 Prozent.

Die ökonomischen Vorteile der EU-Mitgliedschaft liegen auf der Hand. Es sind vor allem politische Beweggründe, welche die Opposition aus konservativen Euroskeptikern in Topolneks eigenen ODS-Partei und Kommunisten bewogen haben, sich dem Misstrauensantrag der eigentlich EU-freundlichen Sozialdemokraten wegen eines zweitrangigen innenpolitischen Streits anzuschließen. Das Verhalten der Sozialdemokraten zeugt mithin nicht gerade von Verantwortung für die Prager Ratspräsidentschaft.

Begründete Furcht

Im Grunde geht es wie in Irland, Frankreich und den Niederlanden um die Furcht, einen Teil der nationalen Souveränität an die Brüsseler Eurokratie abgeben zu müssen. Die Furcht ist nicht unbegründet, wie die Praxis zeigt. Hinzukommt, dass Staatschef Vclav Klaus, ein ausgesprochener Gegner der EU, meint, sein Land würde sich nach den Jahrzehnten eingeschränkter Souveränität im Warschauer Vertrag wieder in neue Abhängigkeiten begeben.

Wenn Topolnek auch darf bis zum Ende der EU-Ratspräsidentschaft im Amt verbleiben darf, er wird ein noch schwächerer Ratspräsident sein als bisher. Doch gerade in der Krise bedürfte es einer starken Hand. Von einem gemeinsamen Vorgehen der 27 kann bislang keine Rede sein. Jeder kocht sein eigenes Süppchen; die alten Mitglieder, weil sie sich auch allein immer noch stark genug fühlen, die neuen, weil sie sich anders nicht helfen können. Erinnert sei daran, dass sich die EU zu zusätzlichen Hilfen für die osteuropäischen Mitgliedsstaaten erst im zweiten Anlauf bereit fand. Die NATO-Mitglieder Großbritannien und Frankreich fast zeitgleich kontrakarrierten ihre eigene Knauserigkeit in der EU und stellten für die Modernisierung der sowjetischen Hubschrauberflotten Ungarns, Polens und Tschechiens 25 Millionen Euro bereit. Weitere Gelder sollen folgen.

"Lissabonner Vertrag" ad

Die EU-Gegner im tschechischen Senat, dem Oberhaus der Nationalversammlung, dürften sich durch das Votum ihrer Unterhauskollegen gestärkt fühlen und dem "Lissabonner Vertrag" die erforderliche Dreifünftelmehrheit verweigern. Selbst wenn sich die Iren nach ihrem ersten Nein bei einer weiteren Volksabstimmung im Oktober für ein Ja entscheiden, die europäische Rumpfverfassung wird wohl so rasch nicht in Kraft treten.

Der Fenstersturz auf der Prager Burg 1618 leitete den 30-jährigen Krieg ein. Glücklicherweise vertragen sich Katholiken und Protestanten im heutigen Europa besser als vor vier Jahrhunderten. Das politische Projekt eines geeinten Europa aber hat mit dem Sturz von Topolnek einen weiteren schweren Rückschlag erlitten.

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

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