Kommentare

Zwischenruf Der afghanische Scherbenhaufen

Die Beschlüsse des NATO-Gipfels zu Afghanistan sind ein Eingeständnis der Niederlage. Die Front der Willigen bröckelt. Nach dem geplanten Abzug aller westlichen Kampftruppen 2014 könnten die Taliban wieder an die Macht kommen, zumindest aber daran beteiligt werden.

Die westliche Afghanistanpolitik hat versagt.

Die westliche Afghanistanpolitik hat versagt.

(Foto: dpa)

Scherbenhaufen ist nur ein halbwegs hinreichender Ausdruck, um den Zustand zu beschreiben, vor dem die westliche Afghanistanpolitik steht. Was nach dem Nato-Gipfel von Chicago der Öffentlichkeit als Erfolg präsentiert wird, ist nichts anderes als ein Dokument der Niederlage.

Es ist nachgerade unverfroren, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die Pläne des neuen französischen Präsidenten für einen vorzeitigen Truppenrückzug noch in diesem Jahr "als großes Signal der Gemeinsamkeit" bezeichnet. François Hollande und seine Wähler haben erkannt, dass der Feldzug am Hindukusch in einem Desaster enden wird, bei dem man tunlichst nicht anwesend sein sollte. Doch nicht nur dem Sozialisten aus Paris ist ein Licht aufgegangen: Das sozialdemokratische regierte Australien will seine Einheiten noch vor dem in Chicago vereinbarten Termin 2014 bis Ende kommenden Jahres abziehen, ebenso das konservativ dominierte Neuseeland.

Taliban werden an die Macht kommen

Niemand kann präzise vorhersagen, was bis 2014 und danach in Afghanistan passiert. Sicher ist allein, dass ein militärischer Sieg über die Taliban unmöglich, ihre abermalige Übernahme der Macht, zumindest aber die Beteiligung daran, wahrscheinlich ist. Denn die Erfahrungen des westlichen Militärengagements im Mittleren Osten und im Maghreb lassen Schlimmes befürchten. Der Irak ist de facto in einen kurdischen und einen arabisch-schiitischen Staat zerfallen. Letzterer ist unter die Fuchtel des Iran geraten. Libyen droht die Spaltung. In beiden Ländern kommt es immer wieder zu schweren Anschlägen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Weltweit hat der militante Islamismus massiv Zulauf erhalten, der zu einer ernsten Gefahr auch für unsere Demokratien geworden ist.

Wie gering der Glaube ist, dass Afghanistans Armee und Polizei künftig die Kontrolle über das Land ausüben können, zeigt sich in der Absicht, auch nach 2014 militärische Berater und Spezialkräfte im Lande zu belassen. Umgekehrte Ironie der Geschichte: In Südvietnam begann die US-Invasion unter John F. Kennedy mit der Entsendung von "Beratern", in Afghanistan könnte sie damit enden. Mehr als vier Milliarden Dollar pro Jahr sollen für das fortgesetzte westliche Engagement nach 2014 bereitgestellt werden. Auf Deutschland würden davon rund 190 Millionen entfallen. Wie viele Tote es geben wird, hat noch niemand ausgerechnet.

Bleskin.jpg

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist er Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen