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Zwischenruf Europas Wackelkandidat

Stabile Regierungen hat Tschechien seit dem Ende der Tschechoslowakei 1993 selten gehabt. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten hat das nicht sonderlich gestört. Am Vorabend der turnusmäßigen Übernahme der Ratspräsidentschaft aber wird die Wackelkoalition aus konservativer Bürgerpartei ODS, christdemokratischer KDU-ČSL und Grünen zum europäischen Politikum.

Bei den kürzliche Senatsteilwahlen hatte die ODS wie zuvor beim kommunalen Urnengang erdrutschartige Niederlagen erlitten. Klarer Wahlgewinner waren die oppositionellen Sozialdemokraten. Als Ministerpräsident Mirek Topolnek in der vergangenen Woche die Vertrauensfrage stellte, kam er im Parlament mit einer Stimme Mehrheit und einem ziemlich blauen Auge gerade noch so davon. Innerparteilicher Widerstand regt sich. Prags Oberbürgermeister Pavel Bm hat gute Chancen Nachfolger zu werden. Fraglich ist jedoch, ob er es bis zum Jahresende schafft, den grobschlächtigen Stinkefingerzeiger abzulösen. Unterstützung aber hat er genug. Sogar Staatschef Vclav Klaus tritt ungeniert und öffentlich für einen Wechsel an der Spitze der Partei ein, die er zu Beginn der neunziger Jahre mitgegründet hatte. Klaus ist aber auch ein erklärter Euroskeptiker, wenn nicht – gegner. Das geht soweit, dass er jüngst verbot, über seinem Amtssitz auf dem Hradschin das blaue Goldsternenbanner neben der blau-weiß-roten Staatsflagge zu hissen. Während die Ratspräsidentschaft für den amtierenden Regierungschef eine Frage der „nationalen Ehre“ ist, meint der Thatcher-Fan Klaus, die Funktion habe für ein kleines Mitgliedsland wie Tschechien keinerlei Bedeutung, das habe schon die slowenische Ratspräsidentschaft gezeigt, die ohnehin nicht viel gebracht habe.

Mag sein. Aber die Verhältnisse sind nun ganz andere: Nicht nur der weitere Umgang mit der stockenden Umsetzung des „Lissabonner Vertrags“ steht auf der Brüsseler Tagesordnung. Die Hauptfrage in der Finanzkrise ist, ob die EU-Staaten Grundsätze für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik finden. Es muss ja nicht gleich eine Wirtschaftsregierung sein, wie sie Amtsinhaber Nicolas Sarkozy vorschlägt. Da braucht es einen starken Verhandlungsführer. Während Topolnek der Opposition aus Sozialdemokraten und Kommunisten Gespräche anbot, um die ausstehende Ratifizierung des Vertragswerks Vertrags bis Silvester zumindest innerstaatlich durchzuziehen, arbeitet die auf seinen Sturz hin.

Aus den Reihen der Union im Europaparlament kommen Forderungen, Tschechien zu überspringen und Schweden mit der Leitung des Rats zu beauftragen. Das Königreich wäre regulär im zweiten Halbjahr 2009 an der Reihe. Oder Frankreich solle weitermachen. Dies aber dürfte die Bundesregierung alles andere als erfreuen, denn mit seinen Vorschlägen zu Wirtschaftsregierung und Verstaatlichung hat der Mann im Elyse-Palast Kanzlerin und Finanzminister arg vergrätzt. Rasche Einigung tut Not, sonst läuft die Union Gefahr, dass ihre gemeinsame Stimme im tosenden Meer der Finanzkrise untergeht. Oder aber 27 europäische Stimmen erschallen. Was genauso schlimm wäre.

Quelle: ntv.de

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