Zwischenruf Haiti: Ein weiteres Jahr des Grauens
11.01.2011, 15:53 Uhr
Zehntausende Häuser wurden am 12. Januar zerstört.
(Foto: dpa)
Das Elend übersteigt fast jede Vorstellungskraft. Seit einem Jahr jagt in Haiti ein Unglück das nächste. Trotz tausender Helfer aus dem Ausland und eifrig zugesagter Hilfsmittel ist die Lage in dem Land nach wie vor katastrophal - und wird es wohl auch noch eine Weile bleiben.
Als vor einem Jahr in Haiti die Erde bebte und 300.000 Menschen ihr Leben verloren, hielt die Welt den Atem an. Eine wahre Spendenflut ergoss sich für das kleine Land auf der Karibikinsel Hispaniola rund um den Globus. Staaten und Hilfsorganisationen mobilisierten Menschen, Finanzmittel und Güter, um den Haitianern zu helfen.
Die USA und Westeuropa auf der einen, die linken lateinamerikanischen Staaten auf der anderen Seite wetteiferten um den größten Anteil an den Hilfsaktionen. Die USA schickten sogar Militär in das Land, wobei es Washington auch darum ging, größere Flüchtlingswellen zu verhindern. In den Vereinigten Staaten leben bereits geschätzte 800.000 Haitianer. Geld für Soforthilfe ist geflossen, jedoch nicht in jedem Fall bei den Bedürftigen angekommen. Von den auf einer Geberkonferenz schlagzeilenträchtig versprochenen zehn Milliarden US-Dollar für eine nachhaltige Beseitigung der Schäden wurde nur ein Bruchteil realisiert.

Eine an Cholera erkrankte Frau erhält in einem Krankenhaus in Port au Prince eine Infusion.
(Foto: dpa)
Ein Grundproblem sind mangelhafte Verwaltungsstrukturen, schon in normalen Zeiten sind die Mitarbeiter der Behörden überfordert. Haiti wurde 1804 nach einem Aufstand schwarzer Sklaven unabhängig, Entschädigungszahlungen, die 1825 nach der Anerkennung durch die einstige Kolonialmacht für die enteigneten Plantagenbesitzer vereinbart wurden, knechteten den Staat bis Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Die von den USA ausgehaltene Diktatur von François "Papa Doc" Duvalier und dessen Sohn Jean-Claude "Baby Doc" verhinderte von 1957 bis 1986 jegliche normale wirtschaftliche Entwicklung. Das Geld aus Staatsbetrieben floss in die Taschen der Duvaliers, die der dünnen mulattischen Oberschicht in deren Betrieben und Plantagen skrupellose Ausbeutung und Bereicherung ermöglichten. Der beispiellose Terror Tonton Macoutes genannten Privatmiliz Duvaliers erstickte jegliche Opposition auf grausame Weise. Auf Wahlen folgten nach der erzwungenen Abdankung des Duvalier-Sohnes Putsche, neuerliche Urnengänge waren wie die im zurückliegenden Jahr stets von blutigen Zusammenstößen begleitet. So stecken zivilgesellschaftliche Strukturen bis heute in den Anfängen. Bodenerosion und die Abschaffung gesetzlicher Schutzmechanismen für die Landwirtschaft führten seit den achtziger Jahren zu Massenarmut und –abwanderung in die Städte.
leben unverändert in Behelfsunterkünften, die medizinische Versorgung ist trotz der Anstrengungen der internationalen Helfer weiter katastrophal. Die Choleraepidemie hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Es sieht alles danach an, dass 2011 in Haiti ein weiteres Jahr des Grauens wird.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de